Unbewusste Fahrlässigkeit: Eine Neubetrachtung aus psychologischer Perspektive

Reference: NSW 2025,

Die Strafbarkeit unbewusster Fahrlässigkeit ist zwar seit langem in der Diskussion, ihre Begründung scheint jedoch gefunden. Der Beitrag zeigt auf, dass vorherrschende Annahmen jedoch auf zweifelhaften psychologischen Prämissen beruhen und begriffliche Unschärfen aufweisen. Dafür wurde die Problematik erstmalig im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen Rechtswissenschaft und Psychologie untersucht, wodurch sich neue Perspektiven auf eine alte Frage eröffnen.

Dass wir Reize in unserer Umwelt wahrnehmen, also sie sehen, hören, riechen, schmecken oder ertasten können, ist ebenso notwendig wie selbstverständlich. Ist ein Reiz so beschaffen, dass er von dem entsprechenden menschlichen Sinnesorgan prinzipiell wahrnehmbar ist, dann wird er in der Regel auch wahrgenommen werden. Wir verlassen uns also bei ausreichend guten Lichtverhältnissen zu Recht darauf, dass wir die letzte Stufe beim Treppensteigen, die Fahrradfahrerin beim Auspar-

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ken oder das heranfahrende Auto beim Überqueren der Straße bemerken werden.

Allerdings reicht das bloße Sehen der relevanten Reize (Treppenstufe, Radfahrerin, Auto) in diesen Beispielen nicht aus, um Unfälle vermeiden zu können. Die Reize müssen zusätzlich korrekt weiterverarbeitet, das heißt zunächst interpretiert werden. Im nächsten Schritt muss dann korrekt auf sie reagiert werden – und beides in angemessener Zeit. Die letzte Treppenstufe muss als Treppenende interpretiert und es muss reaktiv daraufhin vom „Treppensteigen“ in die normale Gangart gewechselt werden. Radfahrerin und Auto müssen als Hindernis bzw. Gefahrenquelle erkannt werden und zum Bremsen führen. Auch diese Weiterverarbeitung kann automatisiert ablaufen. Manchmal verlangt die korrekte Verarbeitung eines Reizes jedoch ein gewisses Maß an Konzentration, das nicht in jeder Situation und von jeder Person aufgebracht werden kann. Dass diese Reiz-Reaktions-Verarbeitung fehleranfällig ist, lässt sich auch daran erkennen, dass in Autos mittlerweile modernste Fahrassistenten bei der vollständigen Erfassung der Umwelt helfen.

Fehler der Reiz-Reaktions-Verarbeitung sind zwar oft mit einem gehörigen Schrecken verbunden, aber zum Glück meistens harmlos. Dennoch liegt der Vorwurf auf der Hand: „Pass besser auf“, „guck halt richtig“, „schau, wo du hingehst“.

Und das ist wohl folgerichtig: Wir halten es für selbstverständlich, dass andere bei hinreichender Konzentration und entsprechender Motivation wichtige Reize wahrnehmen und rechtzeitig darauf reagieren. Zudem verlassen wir uns darauf, dass wir dazu ebenfalls in der Lage sind. Das gilt nicht nur für harmlose Situationen, sondern auch in anspruchsvollen und gefährlichen Kontexten, insbesondere im Straßenverkehr, wo schnell und unmittelbar auf sich wiederum oft schnell bewegende Reize reagiert werden muss. Wir müssen uns darauf verlassen, dass unsere Reiz-Reaktions-Verarbeitung grundsätzlich funktioniert. Könnten wir dies nicht, sähe unser Alltag gänzlich anders aus. So müsste etwa der Straßenverkehr in Schrittgeschwindigkeit erfolgen oder ganz eingestellt werden,[1] erst recht, wenn man ohnehin das regelgerechte Autofahren als „erlaubtes Risiko“ ansieht.[2]

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Grundannahmen wie diese prägen jedoch nicht nur unseren Umgang mit unserer Reiz-Reaktions-Verarbeitung. Auch in anders gelagerten Fällen muss sich der Mensch auf grundsätzlich vorhandene „Fähigkeiten“ bzw. darauf verlassen, dass ihm bestimmte Reize in seiner Umwelt rechtzeitig bewusst werden, ohne dass er fortwährend seine Aufmerksamkeit darauf richtet. So vertrauen wir bspw. auch darauf, dass wir uns an wichtige unerledigte Dinge, etwa einen Termin bei der Chefin, zum richtigen Zeitpunkt erinnern können.

Derlei Grundannahmen bestimmen dabei nicht nur unser Gefühl von Verantwortlichkeit im sozialen Miteinander, sondern auch unsere Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unbewusster Fahrlässigkeit. Doch obgleich diese Annahmen einen erkennbaren (zumindest laien-)psychologischen Kern haben, wird der Psychologie hinter der Unbewusstheit kaum Beachtung zuteil.[3] Dem Charakteristikum unbewusster Fahrlässigkeit, der namensgebenden Unbewusstheit, wird darüber hinaus im deutschen Strafrecht kaum bis keine Bedeutung zugemessen.[4] In der deutschen Strafrechtswissenschaft ist die Ansicht vorherrschend, das „Problem unbewusster Fahrlässigkeit“ sei, nach mehr als zweihundertjähriger Diskussion,[5] gelöst. Zwar kann die Schuld unbewusster Fahrlässigkeit nicht, wie lange versucht wurde, mit einem positiven Willensentschluss als klassische „Willensschuld“ erklärt werden. Nach der Ablösung des „psychologischen“ durch den „normativen“ Schuldbegriff könne indes auch problemlos die unbewusste Fahrlässigkeit begründet werden:

„Damit war die Frage der ‚Willensschuld‘ für vorsätzliche und fahrlässige Straftaten im grundsätzlich gleichen Sinne gelöst: Schuld ist nicht das Wollen der sorgfaltswidrigen Rechtsgutsbeeinträchtigung, sondern das Urteil, dass der Täter vorwerfbar sorgfaltswidrig gehandelt hat, eine Feststellung, die auch für die unbewusste Fahrlässigkeit zutrifft“[6] (Herv. i. Orig.)

Im vorliegenden Aufsatz soll aufgezeigt werden, dass indes auch unter dem normativen Schuldbegriff eine psychologische Perspektive für die

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Begründung der Strafbarkeit unbewusster Fahrlässigkeit überaus relevant ist. Dafür ist zunächst diese Behauptung zu plausibilisieren (A.). Im nächsten Schritt muss demonstriert werden, welche Konsequenzen aus dieser Perspektive folgen (B.). Zuletzt werden kurz allgemeinere Schlüsse daraus gezogen und der weitere Forschungsbedarf aufgezeigt (C.). Durch die hier erfolgte psychologisch-juristische Zusammenarbeit wird, nach dem Kenntnisstand der Autoren, erstmals die unbewusste Fahrlässigkeit interdisziplinär in den Blick genommen.

A. Die Relevanz psychologischer Forschung im Rahmen unbewusster Fahrlässigkeit

Die Relevanz psychologischer Forschung für die Begründung der Strafbarkeit unbewusster Fahrlässigkeit ergibt sich insbesondere aus zwei Aspekten. Auf diese soll der Verständlichkeit halber getrennt eingegangen werden; sie weisen jedoch durchaus verwandte Elemente auf.

I. Schuld trotz Unbewusstheit

Der erste Aspekt besteht darin, dass auch die Schuldbegründung anhand des „normativen Schuldbegriffs“ bzw. eine erhebliche Anzahl von konkreten Varianten eine „empirische“ Seite aufweist, deren Substantiierung nicht allein eine juristische Frage darstellt. Exemplarisch sollen vorliegend einige herausgegriffen werden.

Wohl am deutlichsten sieht man dies bei jenen Theorien, die auf eine fehlerhafte Einstellung zur Begründung der Strafbarkeit unbewusster Fahrlässigkeit rekurrieren.[7] Ihnen liegt die Vorstellung eines akteurinternen Umstandes zugrunde, der zur Unbewusstheit und damit zum sorgfaltswidrigen Verhalten geführt hat.

Meist ist dies ein „Defizit“: Stratenwerth beschreibt eine „Indifferenz gegenüber fremden Rechtsgütern“[8], weswegen der Akteur die Gefahr nicht als solche interpretiert hätte. Duttge will auf ein „mangelndes Vermeideinteresse“[9] abstellen. Sowohl Murmann als auch Beck führen die

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mangelnde Bewusstheit auf die „Geringachtung der gefährdeten Rechtsgüter“[10] zurück. Ein „Motivationsunrecht“ sieht Frister, da es für die korrekte Interpretation einer Situation für Menschen ausschlaggebend sei, „wie wichtig ihnen die betreffende Angelegenheit ist“. Interessanterweise beruft sich Frister dabei auf psychologische Annahmen von Velten, welche noch kurz Erwähnung finden werden.

Für Schlüchter muss hingegen mehr etwas „Positives“ iSe. „Gleichgültigkeit“ der Fehlinterpretation der Gefahr zugrunde liegen. Als eine der wenigen sieht sie dies als Kriterium, das im Einzelfall festgestellt werden muss,[11] ohne jedoch täterbezogene Indikatoren zur Beurteilung zu nennen.[12]

(Unbewusst) fahrlässiges Verhalten auf eine fehlerhafte Einstellung zurückzuführen, scheint prima facie plausibel zu sein. Zu berücksichtigen sind dabei jedoch zwei Punkte: Erstens verstehen die hier angesprochenen Theorien diese Einstellung grds. als eine reale Entität, als ein reales Substrat.[13] Zweitens wird automatisch von der als möglich deklarierten fehlenden Einsicht auf eine dieser zugrunde liegenden Einstellung geschlossen. Erfüllt ein Verhalten die an Fahrlässigkeitsstrafbarkeit gestellten Kriterien, wird der Zusammenhang zwischen Unbewusstheit und fehlerhafter Einstellung somit als immer gegeben angesehen.[14]

Versteht man die Einstellung jedoch als eine reale Entität, bedarf es trotz der „Normativität“ des Schuldbegriffs ihrer Feststellung, unabhängig vom gezeigten oder nicht gezeigten Verhalten. Auch eine Vermutung wäre erst dann legitim, wenn zumindest in einer hinreichenden Mehrheit der Fälle ein entsprechender Rückschluss möglich wäre. Bislang fehlt es jedoch an einer empirischen Untermauerung des angenommenen

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Zusammenhangs zwischen Einstellung und tatbestandsmäßiger Unbewusstheit überhaupt.

Der Einbezug empirischer Forschung ist jedoch nicht nur im Rahmen der genannten Einstellungstheorien angezeigt. Erforderlich ist er unseres Erachtens auch (schon) dann, wenn Schuld überhaupt als „normative Ansprechbarkeit“ verstanden wird, zumindest in der Konzeption, wie sie von Roxin (weiter)entwickelt wurde.[15] Im Vorsatz und wohl auch in der bewussten Fahrlässigkeit kann, angesichts des vorhandenen Wissens des Akteurs, von der grundsätzlichen psychischen Zugänglichkeit der normgemäßen Verhaltensalternativen[16] ausgegangen werden. Dies gilt jedoch nicht ohne Weiteres auch für die unbewusste Fahrlässigkeit. Angesichts des erheblichen Unterschieds zwischen dem Akteur, der um die (möglichen) Folgen seines Verhaltens weiß, und dem, dessen Verhalten gerade von Unbewusstheit geprägt ist, erscheint es umgekehrt naheliegend zu fragen, inwiefern sich Unbewusstheit auf diese psychische Zugänglichkeit auswirkt. Die „empirische Seite“ der normativen Ansprechbarkeit ist zu substantiieren.

Damit ist freilich wenig über die Theorien gesagt, die Schuld ohne entsprechende reale Bezüge zu begründen suchen.[17] Vorliegend soll es jedoch nicht um die Richtigkeit bestimmter Schuldverständnisse gehen, sondern nur um die Notwendigkeit empirischer Fundierung der hier ausgewählten Schuldbegründungen. Darüber hinaus ist entscheidend, welches Verständnis von „Unbewusstheit“ die Autorinnen und Autoren jeweils zugrunde legen. Angesichts der erheblichen Bedeutung dieses Begriffs ist es durchaus überraschend, dass sich in der deutschen Strafrechtsdogmatik kaum Ausführungen zum (Un-)Bewusstheitsverständnis im Kontext unbewusster Fahrlässigkeit finden lassen.[18]

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II. Unbewusste Fahrlässigkeit als Problem von „Vermeidbarkeit“

Daneben ist jedoch noch ein zweiter Aspekt relevant, der mit dem ersten zwar verbunden ist, indes auch einen eigenen Aussagegehalt aufweist.

Dieser ergibt sich daraus, dass die „Sorgfaltswidrigkeit“ der Fahrlässigkeit nach ganz herrschender Ansicht letztlich nicht rein objektiv zu verstehen ist:

„Denn nach dem Schuldprinzip genügt für eine Strafbarkeit nicht schon das Zurückbleiben hinter objektiven Anforderungen, sondern der Täter muss auch nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten dazu in der Lage gewesen sein, den Pflichtverstoß zu vermeiden.“[19]

Diesem anerkannten Grundsatz von „Vermeidbarkeit“, als tatsächliche Erfüllbarkeit des objektiven Maßstabs, kommt jedoch im Rahmen unbewusster Fahrlässigkeit eine besondere Brisanz zu. Ist das normwidrige Verhalten für den Akteur unvermeidbar, basiert es grundsätzlich auch nicht auf einer fehlerhaften Einstellung seinerseits. Zumindest fehlt es an einer Form von „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“, wenn der Erfolg auch trotz „korrekter“ Einstellung eingetreten wäre. So oder so bedarf diese „Vermeidbarkeit“, d.h. die Feststellung der allgemein so bezeichneten „subjektiven Fahrlässigkeit“, grundsätzlich ebenfalls empirischer Fundierung.[20]

Richtet man indes den Blick auf die tatsächlichen Fähigkeiten des Akteurs, zeigt sich ein erhebliches Problem darin, dass „Vermeidbarkeit“ im Kontext unbewusster Fahrlässigkeit mehrdeutig ist.

So kann mit Vermeidbarkeit einerseits lediglich gemeint sein, dass der Akteur die „generellen Fähigkeiten“ zum normgemäßen Verhalten aufwies. So sind wohl Roxin/Grecozu verstehen:

„Die Annahme, es stehe in niemandes Macht, die Umstände zu bedenken, die einem nicht einfallen, ist irrig“[21]

Dies kann sich allerdings nur auf eine abstrakte Möglichkeit beziehen. „Abstrakt“ oder „generell“ ist diese Möglichkeit nicht aufgrund

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mangelnder Beweisbarkeit von Willensfreiheit. Verständlicher wird dies, wenn man ein alternatives Verständnis von „Vermeidbarkeit“ miteinbezieht. So wäre es möglich, neben den „generellen Fähigkeiten“ zu normgemäßem Verhalten, auch zu fordern, dass der Akteur diese Fähigkeiten in der kritischen Situation tatsächlich hätte einsetzen können – also die reale Möglichkeit hatte, den Nichteintritt des konkreten Erfolgs in seiner konkreten Gestalt herbeizuführen. „Möglichkeit“ ist wiederum nicht i.S.e. realen „Andershandelnkönnens“ gemeint, sondern bezieht sich letztlich auf die auch von Roxin/Grecovorausgesetzte (potenzielle) psychische Zugänglichkeit. Dies läuft mithin auf die oben bereits angesprochene Frage hinaus: Welche Auswirkungen hat Unbewusstheit, je nach Definition, auf diese psychische Zugänglichkeit? Schließt Unbewusstheit diese Zugänglichkeit aus, behält der Akteur zwar die „generellen“ Fähigkeiten zum normgemäßen Verhalten, hat jedoch keine Möglichkeit, „aus sich heraus“ diese in der konkreten Situation einzusetzen. Die bloße theoretische Chance, dass sich die Unbewusstheit „von selbst“ auflöst, ist keine „Möglichkeit“ des Akteurs, wenn dies nicht eintritt.

Fragwürdig erscheint es anzunehmen, dass diese psychische Zugänglichkeit und damit die grundsätzliche „Möglichkeit“, nur dann vorliegt, wenn Umstände „aktiv bedacht“ werden. Damit ist die Frage nach dem Einfluss von Unbewusstheit auf die psychische Zugänglichkeit indes noch nicht beantwortet. Eine Annäherung bedarf jedoch des Einbezugs empirischer Erkenntnisse, um diese Zugänglichkeit auszuloten.

Dies heißt im Übrigen nicht, dass „Vermeidbarkeit“ zwangsläufig so verstanden werden sollte. Der Erkenntnisgewinn liegt bereits in der konkreten Bestimmung der Voraussetzungen von Vermeidbarkeit und der Folgen einer möglichen Festlegung.

Versucht werden sollte bis hierhin, den Einbezug empirischer Forschung, primär der Kognitions- und Sozialpsychologie, plausibel zu machen. Dies folgt aus zwei verbundenen Aspekten: Erstens: Ist der Fahrlässigkeitsvorwurf auf eine als real verstandene Einstellung bezogen, bedarf dies der tatsächlichen Feststellung eines solchen Zusammenhangs. Sollte es an einem solchen Zusammenhang fehlen, würde der Vorwurf ins Leere gehen. Zweitens: Je nach Verständnis von Vermeidbarkeit ist ebenfalls eine empirische Fundierung notwendig, insbesondere um zu klären, inwiefern von der „Zugänglichkeit“ „unbewusster“ Umstände

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ausgegangen werden kann. Davon ist auch gleichzeitig die „normative Ansprechbarkeit“ des Akteurs überhaupt betroffen.

B. Eine Annäherung aus psychologischer Perspektive

I. Kategorisierung

Bislang stellt die psychologische Untersuchung dieser Fragestellung indes im Wesentlichen ein Desiderat dar. Angesichts dessen und der Komplexität der zugrunde liegenden Prozesse, kann an dieser Stelle nur eine Annäherung als erster Stein des Anstoßes für weitere Untersuchungen erfolgen.

Auf den ersten Blick scheint allerdings selbst eine Annäherung kaum realisierbar, wenn man die Vielzahl denkbarer Szenarien unbewusster Fahrlässigkeit bedenkt. Während jedoch die situativen Kontexte kaum fassbar sind, erscheint es möglich, Unbewusstheit auf ihre Ursachen zurückzuführen, die deutlich weniger zahlreich sind. Abhängig von der zugrunde gelegten Definition von „Bewusstheit“ erscheint es plausibel, dass zumindest eine große Mehrheit der Fälle auf drei dieser Ursachen zurückgeführt werden kann.

a. Von vornherein bestehendes Nichtwissen

Dies meint solche Fälle, in denen der Akteur noch nie um einen gefahrbegründenden Fakt wusste. Primär ist dies ein Wissen um naturgesetzliche Umstände, bspw. dass zwei Chemikalien in einer bestimmten Weise miteinander gefährlich reagieren.[22]

b. Fehlerhafte oder ausgebliebene Reizverarbeitung

Hier hat der Akteur einen relevanten Umstand nicht oder nicht rechtzeitig bemerkt und als solchen interpretiert. Die Mehrheit dieser Fälle werden Fälle eines „Übersehens“ oder „Überhörens“ sein, theoretisch wäre auch ein „Überriechen“ oder „Übertasten“ denkbar. Ein typisches Beispiel ist das zu spät bemerkte Bremsen des vorausfahrenden Autos auf der Autobahn.

c. Vergessen

Die dritte Kategorie stellt Fälle des Vergessens dar. Hier wird der relevante Reiz zwar korrekt verarbeitet, die Person denkt aber im Moment

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der Reizverarbeitung nicht daran, dass sie sich vorgenommen hatte, auf diesen Reiz in bestimmter Weise zu reagieren. Etwa wenn eine Person vergisst, beim Verlassen des Autos das Fenster einen Spalt für den darin befindlichen Hund zu öffnen, weil sie das Fenster üblicherweise (wenn kein Hund im Auto ist) auch geschlossen lässt.

Aufgrund der Platzbeschränkung müssen wir uns hier auf einen Aspekt fokussieren. Während Fälle eines a priori Nichtwissens zügig erklärt sein dürften, kommen die beiden übrigen Fallgruppen nicht ohne eine weitaus gründlichere Bearbeitung aus. Von diesen stellt „Übersehen“ ein überaus interessantes Problem dar, welchem mit dem Straßenverkehr eine praktisch erhebliche Relevanz zukommt. Darüber hinaus scheint die Annahme im deutschen Strafrecht verbreitet, dass bei hinreichender Anstrengung, sich zu konzentrieren, und adäquater Motivation eine korrekte Reiz-Reaktions-Verarbeitung gesichert sei.[23] Deswegen soll sich an dieser Stelle auf diesen Aspekt fokussiert werden und Fälle des Vergessens späterer Betrachtung vorbehalten bleiben.

II. Empirische Konkretisierung

1. A-priori-Nichtwissen

Derlei Fälle dürften die offensichtlichsten sein. Wenn der Akteur nie von dem relevanten Fakt wusste, besteht im Tatzeitpunkt weder ein Zusammenhang zwischen seiner Einstellung und seiner Unbewusstheit, noch ist ihm das Wissen um diesen Fakt in irgendeiner Weise psychisch zugänglich, solange er nicht weiß, dass er es nicht weiß.

Eine Verlagerung auf einen Zeitpunkt, indem er sich das entsprechende Wissen hätte aneignen können, ist freilich möglich, allerdings bedürfte es eines hinreichenden Zusammenhangs zum tatbestandsmäßigen Erfolg, der gerade bei wohlmöglich erheblichen zeitlichen Abständen schwer nachvollziehbar sein dürfte.

2. Fehler der Reiz-Reaktions-Verarbeitung – „Übersehen“

Menschen gelingt es in der Regel sehr gut, handlungsrelevante Reize in der Umwelt wahrzunehmen, diese korrekt zu interpretieren und dann

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angemessen darauf zu reagieren. Trotzdem kommt es auch immer wieder zu Fehlern in der Reiz-Reaktion-Verarbeitung, die rechtlich relevante Folgen nach sich ziehen können. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass diese Fehler, nach dem gegenwärtigen Forschungsstand, oft nicht auf eine problematische Einstellung im Sinne einer fehlenden Motivation oder eines mangelnden Interesses zurückzuführen sind.[24] Für die jeweilige Person stellt es ein „punktuelles kognitives Versagen“ dar, das selbst bei optimaler Motivationslage kaum vermeidbar ist. Die Wahrscheinlichkeit eines kognitiven Versagens hängt mit der jeweiligen Situation und den kognitiven Fähigkeiten der Person zusammen, die sich teilweise sogar im Myelinisierungsgrad des Gehirns widerspiegeln.[25]

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Menschen unterschiedlich gut darin sind, Reize überhaupt wahrzunehmen. Die Wahrnehmungsfähigkeit nimmt mit zunehmendem Alter ab, sodass gerade ältere Menschen häufig Schwierigkeiten haben, bestimmte Reize überhaupt wahrzunehmen.[26] Aber auch bei eigentlich ausreichend guten Fähigkeiten und Umweltbedingungen kann es situativ zu einem punktuellen Wahrnehmungsversagen kommen. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass dem Autofahrer selbst im Nachhinein nicht bewusst wird, dass seine Wahrnehmungsfähigkeit durch die äußeren Umstände vorübergehend eingeschränkt war. Es ist plausibel, dass äußere oder auch innere Umstände dazu führen, dass ein Reiz vorübergehend schlechter verarbeitet werden kann, als es in der Situation und von dieser Person erwartbar wäre, ohne dass dies der betroffenen Person in irgendeiner Weise bewusst ist. Hier sind medizinische Gründe (Störung des Augeninnendrucks, Verlegung des Gehörgangs) denkbar, aber unter Umständen auch schon lediglich ein längeres Blinzeln zur falschen Zeit. Hinzu kommt, dass selbst prinzipiell wahrnehmbare Reize oft gar nicht so eindeutig interpretierbar sind, wie man denken könnte.[27] In der Dämmerung mag die dunkel gekleidete Radfahrerin vom Autofahrer, der gerade von einem Witz des Nachrichtensprechers im Radio einen Sekundenbruchteil leicht abgelenkt wird, wenn überhaupt, nur als Schatten und nicht als reale Person „interpretiert“ werden. Dies könnte wiederum zur Folge

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haben, dass der Autofahrer nicht aufs Bremspedal tritt, obwohl er nur Sekunden später die Radfahrerin trotz der schlechten Sichtverhältnisse noch als solche erkannt hätte. Ein solches, durch einen (unvermeidbaren) ablenkenden Reiz verursachtes „Aufmerksamkeitsblinzeln“, ist gemeinhin bei allen Menschen zu beobachten und wird auch als psychologische Refraktärperiode bezeichnet.[28] Da wir den Zeitpunkt und die Intensität potenziell ablenkender Reize, wie bereits aus dem Radiobeispiel ersichtlich, nicht selbst bestimmen, ist das Auftreten einer psychologischen Refraktärperiode für uns nicht kontrollierbar. Oft sind die ablenkenden Reize, die diese Refraktärperiode nach sich ziehen, zudem so subtil, dass sie der betroffenen Person gar nicht bewusst werden.

Selbst wenn ein Reiz korrekt wahrgenommen und interpretiert wird, ist jedoch immer noch nicht gesichert, dass auf ihn ausreichend schnell und akkurat reagiert werden kann. Die Verarbeitungsgeschwindigkeit hängt nun stark davon ab, wie viel Aufmerksamkeit dem Reiz gewidmet wird.[29] Menschen sind (natürlich) grundsätzlich in der Lage, ihren Aufmerksamkeitsfokus bewusst auf eine bestimmte Situation, etwa den Verkehr beim Autofahren, zu richten und gegen Störungen abzuschirmen. In der Kognitionspsychologie wird diese Fähigkeit als Aufmerksamkeitskontrolle bezeichnet.[30] Allerdings ist es nicht möglich, einen solchen Aufmerksamkeitsfokus dauerhaft aufrechtzuhalten. Die Aufmerksamkeit wird bei allen Menschen über die Zeit immer wieder „gelockert“, sodass zwangsläufig per se unvermeidbare Momente der Unaufmerksamkeit entstehen. Zudem treten in Alltagssituationen immer wieder ablenkende Reize auf, wie etwa ein Anruf auf dem Handy während des Autofahrens, aber auch eigene Gedanken, die einem plötzlich in den Sinn kommen, etwa die Erinnerung, dass man noch Brot kaufen müsste.[31] Tritt nun ein kritisches Ereignis (Bremsen des vorausfahrenden Autos) in einem solchen Moment der Unaufmerksamkeit auf, wird man langsamer reagieren als in Momenten, in denen der Aufmerksamkeitsfokus gänzlich auf den gegenwärtigen Moment gerichtet ist.[32] Empirische Studien zeigen, dass bei

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30% bis 50% aller alltäglichen Tätigkeiten Momente der Unaufmerksamkeit auftreten.[33]

Schließlich hat der Grad an Aufmerksamkeit, der im entscheidenden Moment auf die Situation gerichtet ist, einen entscheidenden Einfluss darauf, wie schnell nach der korrekten Interpretation des Reizes dann auch tatsächlich reagiert werden kann.[34] Generell gilt: Je besser eine bestimmte Reiz-Reaktions-Verbindung eingeübt ist, desto schneller und akkurater kann diese Handlung prinzipiell auch ausgeführt werden. Trotzdem wird für die meisten Handlungen, wenn man von einfachen Reflexen einmal absieht, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit für deren schnelle und korrekte motorische Ausführung benötigt. Somit kann es selbst bei Routinetätigkeiten zu Fehlern aufgrund kurzer (unvermeidbarer) Aufmerksamkeitslücken kommen. Hierbei ist festzuhalten, dass gerade bei als einfach empfundenen Tätigkeiten die Neigung, gedanklich hin und wieder abzuschweifen, selbst bei Menschen mit guter Konzentrationsfähigkeit höher ist als bei schwierig empfundenen Tätigkeiten.[35] In solchen Fällen wäre ein mangelndes „Vermeideinteresse“ im Vorfeld nicht festzustellen. Auch an einer tatsächlichen Vermeidbarkeit fehlte es, da sich die betroffenen Personen in dem Moment des Abschweifens gar nicht bewusst sind, dass ihre Aufmerksamkeit nicht (mehr) auf das aktuelle Geschehen gerichtet ist.[36] Besonders herausfordernd sind Situationen, für die in der Vergangenheit bereits eine bestimmte Reaktion eingeübt wurde, die aber im aktuellen Fall durch eine alternative Reaktion „überschrieben“ werden muss. Solche Situationen sind besonders aufmerksamkeitsfordernd. Hier kann es leicht dazu kommen, dass im Zustand der minimal reduzierten Aufmerksamkeit statt der neuen angemessenen Reaktion spontan die früher erlernte Reaktion ausgeführt wird. Viele Menschen, die beim Umstieg vom Schaltwagen auf ein Fahrzeug mit Automatikgetriebe schon einmal zum „Schaltversuch“ ungewollt das Bremspedal des Automatikautos betätigt haben, kennen dieses Phänomen. Paradoxerweise wird dies gerade bei geübten Personen, also

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dem langjährigen Schaltwagenfahrer im Beispiel, in besonderem Maße der Fall sein.

Die menschliche Reiz-Reaktions-Verarbeitung unterliegt damit diversen Einflüssen und läuft vielfach automatisiert ab. Dass die persönliche Einstellung, bspw. im Sinne einer mangelhaften „Motivation“ dabei ein potenzieller Faktor sein kann, wird nicht bestritten. Angesichts der Komplexität der beteiligten Vorgänge verbietet sich jedoch ein pauschaler Rückschluss von einem Reizverarbeitungsfehler auf eine ebendiesem kausal zugrunde liegende fehlerhafte Einstellung.

C. Schlussfolgerungen und Fazit

Obgleich in diesem Rahmen lediglich eine Annäherung an die Thematik erfolgen konnte, wurde gezeigt, dass die „empirische Seite“ der Begründung der Strafbarkeit unbewusster Fahrlässigkeit an einem Mangel leidet. Soll sich der Schuldvorwurf auch in der unbewussten Fahrlässigkeit auf ein reales Substrat beziehen, kann dies nicht pauschal laienpsychologisch durch die Annahme einer fehlerhaften Einstellung erklärt werden.

Berücksichtigt man die reale Möglichkeit, dass Unbewusstheit, zumindest im Rahmen der hier untersuchten Reiz-Reaktions-Verarbeitungsfehler, in keinem Zusammenhang mit einer motivationalen Fehleinstellung des Akteurs stehen muss, sollte eine entsprechende Schuldbegründung zumindest eine Exkulpationsmöglichkeit bieten. Ohne eine solche läuft eine derartige Begründung Gefahr, zirkelschlüssig zu werden.

Der Einbezug einer psychologischen Perspektive ermöglicht auch eine Ausdifferenzierung von „Vermeidbarkeit“ im Rahmen unbewusster Fahrlässigkeit. Die Existenz von Fehlern bei der Reiz-Reaktions-Verarbeitung ändert zunächst einmal nichts daran, dass der Akteur in der konkreten Situation die generellen Fähigkeiten zum normgemäßen Verhalten behält. Allerdings schließt im Einzelfall das Vorliegen eines Reiz-Reaktions-Verarbeitungsfehlers die normgemäße Verhaltensalternative regelmäßig dann aus, wenn diese dem Akteur dadurch nicht „psychisch zugänglich“ ist.[37]

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Erforderlich ist mithin eine Festlegung, wie „Vermeidbarkeit“ im Rahmen unbewusster Fahrlässigkeit zu verstehen ist.

Entscheidend ist bei alledem freilich zeitliche und gegenständliche Präzision. Führt ein Reiz-Reaktions-Verarbeitungsfehler zu der Nichtverfügbarkeit des entsprechenden Umstandes, heißt dies nicht, dass nicht an einen früheren Zeitpunkt angeknüpft werden könnte. Die Natur dieser Fehler bedingt jedoch, dass auch diese Vermeidbarkeit durchaus zweifelhaft sein kann. Auch zu einem früheren Zeitpunkt muss der Vermeidbarkeit ermöglichende Umstand selbst psychisch zugänglich sein. Wird bspw. ein Autofahrer davon abgelenkt, dass ein Apfel vom Beifahrersitz plötzlich in den Fußraum rollt und verursacht deswegen einen Unfall, kann man annehmen, dass die Ablenkung in der Situation nicht vermeidbar war. Allerdings hätte der Fahrer dies wiederum durch ein Verstauen des Apfels vor Fahrtbeginn vermeiden können. Dafür muss er den Apfel allerdings wiederum überhaupt wahrnehmen, was sich im Rahmen eines Regresses weiter problematisieren ließe.

Die hier erfolgte Ausführung kann daher lediglich den Auftakt für die weitergehende Untersuchung der Thematik bilden. Dass hier erstmalig die unbewusste Fahrlässigkeit aus einer juristischen und einer (kognitions-) psychologischen Perspektive beleuchtet wurde, sollte somit Anlass für die weitere interdisziplinäre Zusammenarbeit sein.

Author Contribution Statement:

Kapitel A. und B. I. wurden primär von Weigel verfasst, während Rummel Kapitel B. II. beigetragen hat. Einleitung und Fazit wurden von Weigel verfasst und von Rummel aus psychologischer Fachperspektive heraus kommentiert. Die Entwicklung der Forschungsfrage und die Konzeption des Beitrags stammen von Weigel.


Johannes Weigel ist Mitglied der unabhängigen Forschungsgruppe „Strafrechtstheorie“ am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht unter der Leitung von Philipp-Alexander Hirsch und Doktorand am Lehrstuhl von Uwe Murmann an der Universität Göttingen. Kontakt: j.weigel@csl.mpg.de.
Jan Rummel ist Professor für Allgemeine Psychologie und Kognitive Selbstregulation an der Universität Heidelberg und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der menschlichen Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistung.


Die in diesem Beitrag entwickelten Ideen und Konzepte wurden teilweise von den Autoren auf der
Tagung „Criminalising Carelessness“ am MPI-CSL im August 2024 präsentiert.

[1] So auch Roxin/Greco, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2020, § 24 Rn. 69.

[2] So u.a. Roxin/Greco (Fn. 1), § 11 Rn. 66.

[3] Ausnahmen stellen insbesondere historisch Exner, Das Wesen der Fahrlässigkeit, 1910 und modern Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, 389 ff. dar.

[4] Siehe nur Roxin/Greco (Fn. 1), § 24 Rn. 68; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 54. Aufl. 2024, Rn. 1110; Freund/Rostalski, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2019, § 5 Rn. 9; für das Gutachten Murmann, Grundkurs Strafrecht, 8. Aufl. 2024, § 30 Rn. 5 m.w.N.

[5] Siehe für einen Überblick über diese Diskussion u.a. Schlüchter, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit, 1996, insb. ab S. 47; Koch ZIS 2010, 175; kritisch dazu Spilgies ZIS 2010, 490.

[6] Gössel in Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, 8. Aufl. 2014, § 42 Rn. 60 ff.

[7] Es scheint, dass dies derzeit sogar die Mehrheit im deutschen Strafrecht darstellt.

[8] Stratenwerth, Strafrecht AT I, 3. Aufl. 1981, Rn. 1106. Siehe in der Neuauflage ähnlich Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011, § 15 Rn. 31. Wobei „Indifferenz“ auch als positiv vorhandene Einstellung verstanden werden könnte.

[9] Duttge, in Münchener Kommentar StGB, Bd. 1, 4. Aufl. 2020, § 15 Rn. 88. Siehe allerdings zu weiteren, insbesondere einschränkenden, Aspekten in seiner Theorie, u.a. MüKo/StGB-Duttge, § 15 Rn. 121 ff.

[10] Murmann (Fn. 4), § 30 Rn. 5; Beck, in Handbuch des Strafrechts, Bd. 2, 2020, § 36 Rn. 6.

[11] Siehe Schlüchter (Fn. 5), 85 f.

[12] Siehe Schlüchter (Fn. 5), 86.

[13] Anders wohl Koch, zumindest in Bezug auf Jescheck/Weigend, siehe Koch, Die Entkriminalisierung im Bereich der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung, 1998, 120 mit Fn. 59.

U.a. bei Duttge wird letztlich nicht ganz klar, wie er die Natur des (fehlenden) Vermeideinteresses versteht. Die Relevanz, die er der Psychologie beimisst (siehe nur Duttge, Zur Bestimmtheit, 409), gerade bei der Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit, deutet wohl auf ein Verständnis als reale Entität hin. Allerdings verweist er dabei u.a. auch auf Jakobs (MüKo/StGB-Duttge, § 15 Rn. 89). Für Jakobs ist das „Erfolgsvermeidemotiv“ jedoch etwas normativ Verlangtes und meint keine „reale“ Motivation (vgl. ders, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, 64 ff.), was wiederum für ein eher normatives Verständnis sprechen könnte.

[14] Nur Murmann sieht das als problematisch an, siehe ders (Fn. 4), § 30 Rn. 5 Fn. 8. Insbesondere in Duttges Theorie finden sich indes andere die Strafbarkeitsbegründung begrenzende Kriterien, siehe MüKo/StGB-Duttge, § 15 Rn. 122 ff.; ders, Zur Bestimmtheit, 3. Teil.

[15] Siehe konzis zur Herkunft der Theorie Montenegro, Die Schuld des Menschen, 2023, 46.

[16] So die „empirische“ Seite der normativen Ansprechbarkeit nach Roxin/Greco (Fn. 1), § 19 Rn. 36 ff.

[17] Obwohl es fraglich erscheint, ob selbst Theorien wie bspw. von Schmidhäuser nicht doch auf bestimmten empirischen Vorannahmen beruhen, wenn er u.a. darauf abstellt, ob dem Täter das Rechtsgut unbewusst „verfügbar war“, ders in Vogler (Hrsg.), FS Jescheck, 1985, 285, 492; ders, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975, 440 ff. Und selbst im Funktionalismus werden die individuellen Fähigkeiten zur Erkennbarkeit der Sorgfaltslosigkeit berücksichtigt, siehe Jakobs, Studien, 67 f. Vermeidbarkeit meint bei Jakobs nach Burkhardt zwar keine ontologische aber eine epistemische Möglichkeit, vgl. Burkhardt in Kindhäuser/Kreß/Pawlik/Stuckenberg (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft, S. 441, 478.

[18] Siehe zu einem ähnlichen, wenn auch nicht so stark ausgeprägten, Problem im anglo-amerikanischen Raum Husak Criminal Law and Philosophy 2011, 199, 207. Ähnlich Stark, Culpable Carelessness, 2016, 5, 90 f. Eine vertiefte Auseinandersetzung damit ist daher lohnenswert und aktuell Gegenstand weiterer Forschung von J. Weigel zu diesem Themenbereich.

[19] Murmann (Fn. 4), § 30 Rn. 12 m.w.N.; ebenso Vogel(†)/Bülte, in Leipziger Kommentar StGB, Bd. 1, 13. Aufl. 2020, § 15 Rn. 155.; Roxin/Greco (Fn. 1), § 24 Rn. 114.

[20] So schon eindrücklich Duttge, Zur Bestimmtheit, 409.

[21] Roxin/Greco (Fn. 1), § 24 Rn. 69.

[22] Ein reales Beispiel: Das Wissen um die Gefahr einer Kochsalzintoxikation, siehe BGHSt 51, 18.

[23] Siehe dazu bereits oben und insbesondere nochmal Frister, Strafrecht AT, 10. Aufl. 2023, Kp. 12 Rn. 4; Velten, Normkenntnis und Normverständnis, 2002, 26 ff. und die allgemeine Aussage bei Roxin/Greco (Fn. 1), § 24 Rn. 69.

[24] Im Unterschied zur Ansicht von Velten, siehe dies. (Fn. 23), 26 ff.

[25] Kanai/Rees Nat Rev Neurosci 12 (2011), 235, 239.

[26] Scialfa Can. J. Exp. Psychol. 56(3) (2002), 153, 156.

[27] Paulun/Schütz/Michel/Geisler/Gegenfurtner Vis. Res. 113 (2015), 155, 155.

[28] Welford Br. J. Psychol. General section 42(1) (1952), 2, 2.

[29] Pashler J. Exp. Psychol. Hum. Percept. Perform. 17(4) (1991), 1023, 1023.

[30] Braver Trends Cogn. Sci. 16(2) (2012), 106, 106.

[31] Rummel/Wöstenfeld/Steindorf/Röer J. Cogn. Psychol. 36(1) (2024), 165.

[32] Unsworth/McMillan/Brewer/Spillers J. Exp. Psychol. Learn. Mem. Cogn. 38(6) (2012), 1765, 1770.

[33] Killingsworth/Gilbert Science 330(6006) (2012), 932, 932.

[34] Pashler J. Exp. Psychol. Hum. Percept. Perform. 17(4) (1991), 1023, 1023.

[35] Rummel/Boywitt Psychon. Bull. Rev. 21(5) (2014), 1309, 1309.

[36] Siehe hierzu die folgenden Artikel: Rummel/Hagemann/Steindorf/Schubert J. Exp. Psychol. Learn. Mem. Cogn. 48(10) (2022), 1385, 1385 sowie Seli/Carriere/Smilek Psychol. Res. 79 (2015), 750, 750 sowie Zell/Strickhouser/Sedikides/Alicke Psychol. Bull. 146(2) (2020), 118, 118.

[37] Es wäre allerdings auch möglich, dass Roxin/Greco die bloße Chance, dass sich der Akteur des Umstandes erinnert, als „psychisch zugänglich“ genügen. Falls das der Fall ist, unterscheidet sich die normative Ansprechbarkeit des unbewusst fahrlässigen erheblich vom vorsätzlichen und wohl auch vom bewusst fahrlässigen Akteur.

Kategorie(n)
Kernstrafrecht