Die Feststellung der Kausalität erfolgt anhand der Äquivalenztheorie, die allerdings uferlos ist – auch die Großeltern des Täters können, so das sattsam bekannte Beispiel, nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele. Auf das Beispiel folgt gleich die Beruhigung, dass es weitere Einschränkung gibt, die „moderne“ Lehre der objektiven Zurechnung.[1] Danach soll der Erfolg dem Täter zuzurechnen sein, wenn er eine rechtlich missbilligte bzw. rechtlich relevante Gefahr geschaffen hat, die sich im tatbestandlichen Erfolg realisierte. Dies gehört zum Standardwissen und wird kaum angezweifelt. „In einem bemerkenswerten Siegeszug hat er [der Begriff der objektiven Zurechnung] die Lehrbücher des Strafrechts erobert“, stellte Manfred Maiwald im Jahr 1995 fest.[2]
Die Figur scheint in didaktischer Hinsicht eine Strukturierungsleistung zu erbringen, sie lässt die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit möglicherweise für die Studierenden etwas greifbarer werden – man hat die „Werkformel“ als Anleitung und bekommt einige Fallgruppen genannt, die man in dem Sachverhalt erkennen sollte. Ob allerdings über diese Vorteile hinaus die objektive Zurechnung eine allgemeine „unrechts-
strukturierende Rechtsfigur“[3] ist, ob sie als ein „Strukturprinzip des Allgemeinen Teils des StGB“[4] fungiert, lässt sich diskutieren. Dabei hilft die Abhandlung von Martin Heuser: „Objektive Zurechnung – Urteilsakt oder Urteilsgegenstand?“. Anhand einer scharfsinnigen Argumentation zeigt Heuser, dass die „einseitig objektiv integrierte Lehre von der objektiven Zurechnung“ im finalistischen Straftatsystem dysfunktional ist und „zu systematischen Friktionen führt“ (S. 20). Um es gleich vorweg zu sagen: Bei Heusers Schrift handelt es sich keineswegs um leichte Lektüre, sondern um eine anspruchsvolle dogmatische Arbeit klassischer Art, d.h. eine Leistung, deren Abstraktions- und Durchdringungsniveau hoch ist. Im Folgenden versuche ich, einige der zentralen Thesen von Heusers zugleich komplexer und inspirierender Abhandlung zu rekonstruieren.
Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die durch die Vertreter der Lehre von der objektiven Zurechnung behauptete relative Inkongruenz von subjektivem und objektivem Tatbestand. Heuser erklärt, dass diese angenommen werden müsse, wenn man im finalistischen Straftatkonzept die Vorsatzstrafbarkeit retten will (S. 54). Man sieht sich quasi gezwungen, um die Vorsatzanforderungen nicht erheblich zu erhöhen, den Vorsatzgegenstand auf das erste Teilmoment der objektiven Zurechnung zu begrenzen, nämlich auf die Schaffung der unerlaubten Gefahr (S. 33 ff., 38, 44). Diese muss als objektives „Tatbestandsmerkmal“ aus der Ex-ante-Perspektive beurteilt und vom Vorsatz umfasst werden (S. 44). Das zweite Teilmoment der objektiven Zurechnung, die im Erfolg sich zeigende Gefahrrealisierung, fordert einen „Urteilsakt“ aus der Ex-post-Perspektive und kann nicht Gegenstand des Vorsatzes sein (S. 38 ff., 44). Mehr als ein bloßes Risikowissen wird nicht verlangt, der Täter müsse nicht um den in der Zukunft liegenden Erfolg wissen (S. 42) oder den konkreten unerlaubten Risikozusammenhang in seinen Vorsatz aufnehmen (S. 44). Der subjektive Tatbestand müsse somit nicht vollumfänglich den objektiven Tatbestand widerspiegeln, nach h.M. – erklärt Heuser – ergibt sich so eine „überschießende Außentendenz“ innerhalb des Straftatsystems (S. 44). Würde man sich nicht auf diese relative Inkongruenz von subjektivem und objektivem Tatbestand beschränken, wären die Anforderungen an den Nachweis der Strafbarkeit besonders
erhöht, weil man dann, so jedenfalls die Ansicht des Autors, immer nahezu „Wissentlichkeit“ bzgl. der Gefahrrealisierung nachweisen müsste, was praktisch zur Aufhebung des Eventualvorsatzes führte (S. 46, 54).
Die Konsequenzen einer vollumfänglichen Kongruenz von objektivem und subjektivem Tatbestand für den Eventualvorsatz verdeutlicht Heuser unter anderem am Beispiel des Unterlassungsdelikts (S. 60 ff.). Dabei geht er von der Prämisse aus, dass objektive Zurechnung im Vorsatzdelikt genauso zu erfassen ist, wie im Fahrlässigkeitsbereich. Da nach der Lehre von der objektiven Zurechnung die objektive Tatbestandsmäßigkeit beim Fahrlässigkeitsdelikt und beim Vorsatzdelikt identisch sein sollen, erklärt der Autor, sei der Vorsatz bei der „‚konstruktiven Dekonstruktion‘ der Lehre von der objektiven Zurechnung“ auch „probeweise“ auf den Pflichtwidrigkeitszusammenhang zu beziehen (S. 46). Indem der Vorsatz des Unterlassungstäters sich auf die hypothetische Kausalität beziehe, müsste er sich im Rahmen der Kongruenzanforderungen der finalistischen Straftatlehre konsequenterweise auch auf den Pflichtwidrigkeitszusammenhang beziehen. Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Unterlassen ließen sich voneinander nicht unterscheiden (S. 60). Bei beiden gehe es um die Frage der Vermeidbarkeit des tatbestandmäßigen Erfolges. Das hypothetische Hinwegdenken des Unterlassens in der Frage der Kausalität sei nichts anderes als das hypothetische Hinzudenken eines pflichtgemäßen Alternativverhaltens, um zu beurteilen, ob der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre (S. 60).
Muss sich der Vorsatz auf die „Kausalität der Pflichtwidrigkeit“ beziehen, reiche das bloße Für-möglich-Halten des Erfolgseintritts nicht aus, um Vorsatz zu bejahen (S. 66). Der Täter müsste es zugleich nicht für möglich halten, dass der tatbestandliche Erfolg bei pflichtgemäßem Handeln eintreten würde, was „praktisch“ nahezu Wissentlichkeit bedeuten würde – er müsste dann auch „praktisch Gewissheit haben, dass der Erfolg durch Vornahme der gebotenen Handlung vermeidbar ist“ (S. 66). Daraus ergebe sich die praktische Straflosigkeit des (Eventual-)Vorsatzdelikts, da diese kognitiven Voraussetzungen des Vorsatzes kaum nachweisbar wären (S. 66). In diesem Zusammenhang setzt sich Heuser mit der jüngsten Rechtsprechung des BGH auseinander und zeigt, dass jeder Versuch, die Vorsatzbeschränkung aufzuheben, d.h. die objektive Zurechnung als Vorsatzgegenstand anzuerkennen, mit unerwünschten Vorsatzverengungen einhergeht (S. 71 ff., 76).
Um auf die von den Vertretern der Lehre von der objektiven Zurechnung behauptete „unrechtsstrukturierende“ Leistung der Rechtsfigur zurückzukommen: Heuser liefert klare Argumente dagegen. Die Lehre von der objektiven Zurechnung „sprengt […] den finalistischen Systemansatz mit seiner auf Kongruenz bedachten Unterscheidung von objektivem und subjektivem Tatbestand“ (S. 78). Man sieht sich gezwungen, eine relative Kongruenz zu behaupten, was allerdings eine „Antinomie von Grund-Sätzen“ und eine „unsystematische Konfusion“ von Urteilsakt und Tatbestandsmerkmal zur Folge habe (S. 79). Indem Heuser seine Kritik mit Blick auf das Merkmal des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs entwickelt, d.h. mit Blick auf dasjenige Merkmal, das man mit der Fahrlässigkeitsdogmatik verbindet, kommt deutlich zum Ausdruck, dass die Lehre im Rahmen des Vorsatzdelikts ein Fremdkörper bzw. „dysfuktional“ ist. Vor diesem Hintergrund fordert Heuser in dem letzten Teil seiner Schrift eine Revision des Zurechnungsbegriffs. Dabei geht es ihm um die Vermeidung der Konfusion von Urteilsakt und Urteilsgegenstand.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Heusers Schrift regt an, über die Funktion der Figur der objektiven Zurechnung in straftatsystematischer Hinsicht sowie über den Zurechnungsbegriff weiter zu reflektieren. Bei Heusers Schrift handelt es sich um eine gedankenreiche Abhandlung, die vermittelt, wie dogmatische Strukturen immer wieder neu durchdacht werden können.
Die Verfasserin vertritt im Wintersemester 2024/2025 den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht, Strafrechtsvergleichung an der Universität Leipzig. Kontakt: georgia.stefanopoulou@jura.uni-hannover.de.
[1] Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 16. Aufl. 2024, § 13, Rn. 2.
[2] Maiwald in Kühne (Hrsg.), Festschrift für Koichi Miyazawa, Dem Wegbereiter des japanisch-deutschen Strafrechtsdiskurses, 1995, 465.
[3] Roxin in Bloy/Böse/Hillenkamp/Momsen/Rackow (Hrsg.), Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht, 2010, 715, 724.
[4] So formuliert Maiwald in Kühne (Hrsg.), Festschrift für Koichi Miyazawa, Dem Wegbereiter des japanisch-deutschen Strafrechtsdiskurses, 1995, 465.