A. Sachverhalt
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Nötigung, und wegen Körperverletzung zu einer Gesamtgeldstrafe von 190 Tagessätzen zu je 60 Euro verurteilt und angeordnet, dass hiervon 40 Tagessätze als vollstreckt gelten. Soweit dem Angeklagten ferner unter anderem zur Last lag, die Nebenklägerin mehrfach vergewaltigt zu haben, hat das Landgericht ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. […]
Hinsichtlich der behaupteten Verletzung formellen Rechts sind lediglich Ausführungen zur Verfahrensrüge veranlasst, mit der der Beschwerdeführer die „tatsächliche Befangenheit der Staatsanwältin als Sitzungsvertreter“ beanstandet und einen sich hieraus ergebenden Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren geltend macht. […]
Dem Angeklagten lagen 17 Taten zum Nachteil der Nebenklägerin zur Last, darunter – neben den abgeurteilten Taten – unter anderem sechs Fälle der Vergewaltigung. Die Staatsanwaltschaft wurde an allen sieben Hauptverhandlungstagen von derselben Staatsanwältin vertreten. Im Rahmen ihres Schlussvortrags erklärte sie – ausweislich des in der Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft unwidersprochen gebliebenen – Revisionsvortrags unter anderem: Sie sei „bei Vorwürfen sexualisierter Gewalt gegen Frauen im Allgemeinen und im konkreten Fall befangen“.
Sie „empfinde“ es als „unerträglich“, wenn sich eine Frau „als Opfer sexualisierter Gewalt im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung kritischen Fragen des Gerichts und der Verteidigung stellen und wegen ihres Aussageverhaltens rechtfertigen müsse“. Im Hauptverhandlungsprotokoll wurde insofern vermerkt: „Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft hält den Schlussvortrag: Sie sei in Fällen häuslicher und sexueller Gewalt als Feministin und persönlich Betroffene befangen. Das sei unproblematisch, denn sie lege es hier offen. Mehrfach habe sie überlegt, ob sie einen Befangenheitsantrag stelle, davon aber letztlich abgesehen. Das Verhalten der Kammer sei zunächst nicht zu beanstanden gewesen, weil sie der Geschädigten viel Raum für ihre Aussage gegeben habe. Im weiteren Verlauf habe die Kammer die Geschädigte aber kritischer betrachtet als ma[n]chen Zeugen. Daher möge sich die Kammer des Confirmation Bias ebenso bewusst sein, wie sie ihre Befangenheit offengelegt habe“. Die Staatsanwältin beantragte, den Angeklagten wegen Körperverletzung in fünf Fällen, der Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung in zwei Fällen und der gefährlichen Körperverletzung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und elf Monaten zu verurteilen. Hinsichtlich der weitergehenden Anklagevorwürfe der Vergewaltigung in fünf Fällen beantragte sie, ihn freizusprechen. Im Anschluss an die Schlussvorträge des Nebenklägervertreters und des Verteidigers verkündete das Landgericht nach Beratung das Urteil.
Der Vorsitzende der Strafkammer gab zur Revisionsbegründung unter Bezugnahme der oben wiedergegebenen Stelle aus dem Hauptverhandlungsprotokoll folgende dienstliche Erklärung ab: „Im Übrigen war das Verhalten der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft während der Hauptverhandlung von Gesetzes wegen nicht zu beanstanden, die Begründung ihrer Schlussvorträge auf der Grundlage der Beweiserhebung [war] vertretbar und nicht offensichtlich von verfahrensfremde[n] Überlegungen bestimmt. Hätte sie sich allerdings zu einem früheren Zeitpunkt in vergleichbarer Weise erklärt, hätte das Gericht im Hinblick auf die Fairness des Verfahrens Bedenken gehabt, die Hauptverhandlung unter ihrer Beteiligung fortzusetzen.“
B. Aus den Gründen
1. Es ist mit der staatsanwaltlichen Pflicht zur Objektivität nicht in Einklang zu bringen, dass eine Staatsanwältin eine Sitzungsvertretung
wahrnimmt, obwohl sie sich in Verfahren wegen des Verdachts von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Integrität von Frauen selbst für befangen hält, weil sie jede intensive Befragung einer Opferzeugin als Ausdruck von Misstrauen missbilligt.
2. In einem solchen Fall hat sie daher ihren Vorgesetzten mitzuteilen, dass sie sich für befangen hält und um Ersetzung anzutragen.
3. Verletzt ein Staatsanwalt die Pflicht zur gebotenen Objektivität, gefährdet dies das rechtsstaatliche Strafverfahren. Wiegt die Pflichtverletzung schwer und stellt sie aus Sicht eines verständigen Angeklagten einen Missbrauch staatlicher Macht dar, so ist dessen Recht auf ein faires und justizförmiges Verfahren verletzt.
4. Das Urteil wird in einem solchen Fall regelmäßig auf der Rechtsverletzung beruhen (§ 337 I StPO), es sei denn, das erkennende Gericht bringt im Rahmen seiner Verfahrensherrschaft eine hinreichende Kompensation zum Ausdruck.[1]
C. Würdigung von Monika Frommel
Dem Beschluss ist im Ergebnis und auch der Begründung zuzustimmen. Aus guten Gründen gibt es anders als bei Richtern und Sachverständigen kein klar geregeltes Ablehnungsrecht gegen befangene oder als befangen erscheinende Staatsanwälte.
Sie vertreten die Staatsanwaltschaft als Institution und sind deswegen nicht völlig unabhängig. Die richterliche Unabhängigkeit hingegen muss gewährleistet sein, sonst ist ein rechtsstaatliches Verfahren nicht vorstellbar. Rechtspolitisch kann man allerdings – gerade auch angesichts dieses spektakulären Leipziger Falls – anderer Ansicht sein und Forderungen de lege ferenda formulieren. Beim Ausgangsfall der BGH-Entscheidung handelte es sich um ein Beziehungsdelikt. Objektive Beweismittel fehlten. Daher ist die Vermutung nicht abwegig, dass manche Staatsanwaltschaften dem populistischen Zeitgeist entgegenkommen wollen und häusliche Gewalt und eheliche Vergewaltigungen konsequent anklagen, um erst gar nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, es handele sich um Kavaliersdelikte im schlechten Sinne. Muss man nach über 150 Jahren (die Entstehung der StPO war im Jahr 1877) die Rolle der
Staatsanwaltschaft genauer regeln? Atmet die StPO noch den Geist des damals nicht infrage gestellten Obrigkeitsstaates? Bei genauerem Hinsehen gibt es keine guten Gründe für diese Annahme. Es spricht vieles dafür, zwischen den Organen der Strafrechtspflege zu unterscheiden. Der 5. Strafsenat bringt diese Notwendigkeit einer Unterscheidung insbesondere mit seiner Formulierung zum Ausdruck, dass befangene Staatsanwälte zwar in der Regel ausgetauscht werden müssen, dies aber ausnahmsweise unterbleiben könne‚ wenn das erkennende Gericht im Rahmen seiner Verfahrensherrschaft eine hinreichende Kompensation zum Ausdruck bringe. Garant für eine rechtsstaatlich durchgeführte Hauptverhandlung ist daher in erster Linie das erkennende Gericht. Der Angeklagte hat keinen Rechtsanspruch auf Ersetzung des befangenen Staatsanwalts, wenn das Gericht dessen fehlende Objektivität kompensiert. Dem widerspricht Walter.[2] Auch Staatsanwälte, die befangen sind oder als solche erscheinen, müssten grundsätzlich ausgetauscht werden. Bei Sexualdelikten habe sich nämlich – verstärkt durch die „#metoo“-Bewegung – eine unangemessene feministische Sicht durchgesetzt, welche die Unschuldsvermutung in eine Schuldvermutung (man soll den Opfern glauben) verkehrt habe. Dem ist zwar zuzustimmen. Fraglich aber ist, ob die Ideologie des punitiven Feminismus auch die Gerichtspraxis in Deutschland prägt. Zwar hat die veränderte Sicht auf Opferbelange rechtspolitisch eine große Bedeutung erlangt. Doch letztlich ist sie mit den Prinzipien der Strafrechtsreform der 1970er Jahre unvereinbar[3] und wird auch von der gerichtlichen Praxis nicht unangemessen verstärkt. Es könnte aber sein, dass die Gefahr von Falschanzeigen gestiegen ist und so gesehen für Männer ein unkalkulierbares Risiko entstanden ist, sozial diskriminiert und ausgegrenzt zu werden. Das Problem existiert, aber lässt es sich durch eine Änderung der StPO ändern?
Gegen eine solche Annahme spricht, dass das Anzeigeverhalten stabilen sozialen Konventionen folgt, welche sich nicht durch punktuelle Gesetzesänderungen verändern lassen. Zwar ist das Schicksal, Opfer eines Sexualdelikts zu sein, nicht mehr – wie früher – automatisch mit Scham verbunden. Dennoch ist es über die Jahre hinweg nahezu konstant geblieben, und zwar trotz entsprechender Ratschläge von Beratungsstellen.
Das Risiko von Falschanzeigen hat sich folglich nicht dramatisch erhöht.[4] Entzerrt werden können die gegensätzlichen Behauptungen, wenn man zwischen absichtlichen Falschanzeigen (das sind Verleumdungen) und übertriebenen Schilderungen der Sachverhalte unterscheidet. Verleumdungen sind, folgt man den Ergebnissen von Elz, selten. Hingegen sind übertriebene Schilderungen häufig zu beobachten. Entscheidend ist aber die Tatsache, dass es bei den häufigen Beziehungsdelikten selten objektivierbare Beweise gibt, sodass Aussage gegen Aussage steht. Dann sind Einstellungen des Verfahrens und Freisprüche wahrscheinlich, wie die Studie von Elz[5] zeigt.
Lässt sich die Qualität der Strafjustiz bei den häufigen, aber was die Beweisbarkeit betrifft, unklaren Sexualdelikten erhöhen? Wollmann[6] zeigt die grundsätzliche Vereinbarkeit einer feministischen Sicht auf Belange des Opferschutzes auf der einen und einer normativen Kontrolle durch rechtsstaatliche Prinzipien. Praktisch befolgen die meisten Staatsanwaltschaften und Gerichte rechtsstaatliche Routinen. Dennoch verstummen die Klagen über eine angeblich unangemessene Praxis bei Sexualstraftaten seit einem halben Jahrhundert nicht. Sexuelle Gewalt ist eben seit den 1970er Jahren ein feministisches Dauerthema. Realistisch betrachtet kann das Sexualstrafrecht nur selektiv die Normen des sexuellen Selbstbestimmungsrechts stabilisieren. Diese realistische Haltung wird in der medialen Öffentlichkeit oft ignoriert und es werden Forderungen nach Erweiterung und Verschärfung des Sexualstrafrechts wiederholt. Dabei wird vergessen, dass in diesem Rechtsgebiet Reformen, besser: Änderungen des Sexualstrafrechts, seit 1997 jede Legislaturperiode begleiten, also offenbar leerlaufen. Der Kreislauf der ewigen Unzufriedenheit provoziert daher die Frage, ob und wie ein liberaler und realistischer Feminismus aussehen kann.
Im eher punitiven Mainstream-Feminismus gilt das Schlagwort von der unvermeidlichen sozialen Praxis, die jeweilige Geschlechtsidentität
sozial herzustellen. Diese Annahme ist zwar plausibel, aber historisch variabel und nur bedeutsam in Gesellschaften, die Männern und Frauen sehr unterschiedliche Rollen zuschreiben und das Verhalten stark normieren. Egalitäre Gesellschaften hingegen können indifferenter sein und Strategien des „Un-doing Gender“ begünstigen. Insbesondere in Berufsrollen kommt es weniger auf das Geschlecht als auf professionelle Standards an. Daher ist bei praktizierenden Juristen und Juristinnen das vom Soziologen Hirschauer[7] eingeführte Konzept weiterführend, das bewusst als Gegenbegriff zum Modell des „Doing Gender“ entwickelt wurde. Hirschauer geht es darum, die sozial zugewiesene und dann durch lebenslanges Handeln verinnerlichten Geschlechterrollen durch „praktizierte Geschlechtsindifferenz“ wieder zu relativieren oder sogar außer Kraft zu setzen. Damit setzt er sich bewusst ab von der Annahme, dass das „Doing-Gender“-Konzept[8] universell sei. Liberale Feministinnen setzen auf Professionalität und relativieren ihr Geschlecht. Wer die gegenwärtige Praxis beobachtet, kann vielfältige Beispiele der differenzierten Angleichung, angefangen von der Kleidung und fortgesetzt in wachsenden sozialen Angeboten für Männer und Frauen sehen. Beide Geschlechter können Rollen ausfüllen, die früher ausschließlich dem anderen Geschlecht reserviert waren. Allerdings gilt dies nicht für Sexualdelikte. Hier sind Täter so gut wie immer männlich, Opfer fast immer weiblich.[9] Das lässt sich aber nicht auf die Justiz übertragen. Dort gilt das Modell des „Un-doing Gender“. So gesehen ist der Beschluss des 5. Strafsenats realistisch.
Die Verfasserin ist emeritierte Professorin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und war Direktorin des dortigen Instituts für Sanktionenrecht und Kriminologie. Kontakt: mfrommel@icloud.com.
[1] Leitsätze nach BGH, Beschluss v. 18.1.2024 – 5 StR 473/23 (LG Leipzig), JZ 2024, 1043–1048.
[2] Walter JZ 2024, 1043.
[3] Die mit liberalen Prinzipien unvereinbare strikt generalpräventive Sicht auf das Sexualstrafrecht wurde von einigen Feministinnen schon in den 1980er Jahren vertreten. Sie war auch schon damals verfehlt, vgl. hierzu Frommel MschrKrim 1985, 350–359; Dies./Buchholz NK 2018, 368–391.
[4] Dies wird zwar oft vermutet, ist aber nicht zu belegen. Vgl. hierzu die empirisch solide und differenzierte Analyse von Kölbel StV 2020, 340–350; Kölbel/Lindner StV 2024, 322 ff.; ferner die empirische Studie von Elz KrimZ 2022, abrufbar unter: https://krimpub.krimz.de/frontdoor/deliver/index/docId/389/file/bm-online32.pdf, zuletzt abgerufen am 19.3.2025.
[5] Elz hat die polizeiliche und gerichtliche Praxis analysiert. Walter hingegen stützt sich in seinem Votum ausschließlich auf die Erfahrungen der Aussagepsychologie. Doch sind diese Fälle selten, sodass die von Walter zitierten Ergebnisse zwar zutreffend, aber nicht verallgemeinerbar sind.
[6] Wollmann, Mehr Opferschutz ohne Abbau liberaler Strukturen im Verständnis der Prinzipien der Strafprozessordnung. Dargestellt am Beispiel des verbesserten Zeugenschutzes in § 255a Abs. 2StPO,2009.
[7] Hirschauer KZfSS, Sonderheft 41, 2001, 208–235.
[8] Den gängigen Konstruktionismus, wonach Gender eine sozial akzeptierte, aber unvermeidliche Praxis sei, vertreten folgende Autorinnen: Gildemeister/Wetterer, Wie Geschlechter gemacht werden. Die sozialeKonstruktion derZwei-Geschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung, in Knapp (Hrsg.), Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie, 1992.
[9] Kollektive Vergewaltigungen von Frauen, aber auch von Männern gibt es in Kriegszeiten. In kriminellen Clans kann es eine besondere Unterwerfung von unterlegenen männlichen Konkurrenten sein.