Aufgaben einer kritischen Strafrechtswissenschaft

Reference: NSW 2025, 58-74
DOI: 10.61039/29427509-2025-05

Weite Teile der deutschen Strafrechtswissenschaft verstehen sich als kritisch. Dem liegt zumeist ein systemimmanentes Kritikverständnis zugrunde, das im Kern auf eine Optimierung des Projekts Strafrecht gerichtet ist. Einher geht dies zuweilen mit der Idee, Aufgabe einer kritischen Strafrechtswissenschaft sei es, das Strafrecht von externen – etwa politischen – Einflüssen zu bewahren. Dem lässt sich ein Kritikverständnis gegenüberstellen, das es über externe Maßstäbe ermöglicht, das Projekt Strafrecht auch über Aspekte der Binnenkohärenz hinaus zu betrachten. Mit Hilfe interdisziplinärer Fragestellungen lassen sich versteckte Macht- und Gewaltdynamiken im Strafrecht aufdecken, die zeigen, dass der Versuch, die Strafrechtswissenschaft vor einer Politisierung zu bewahren, selbst politische Praxis ist. Schließlich stellt sich die Frage: Kann es angesichts der dysfunktionalen Strafrechtsrealtität überhaupt eine Form der Kritik geben, die weiterhin auf das Instrument des Strafrechts setzt?

A. Einleitung

Obgleich schon die Suche nach den Aufgaben einer kritischen Rechtswissenschaft einige Fragestellungen bereithält, scheint die Beschäftigung mit einer kritischen Strafrechtswissenschaft in mancherlei Hinsicht von Besonderheiten geprägt. Dies zum einen, da sich weite Teile der Strafrechtswissenschaft in einer Tradition mit einer liberalen und dezidiert staatsbegrenzenden Strafrechtswissenschaft sehen. Das (staats-)kritische Moment erscheint dieser Strafrechtswissenschaft geradezu immanent. Eigene Legitimitätsmaßstäbe gehören so unbestritten zum

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Kern der Strafrechtswissenschaft, dass die anhaltende Skepsis gegenüber der demokratischen Gesetzgebung von Seiten der Staatsrechtslehre zuweilen mit Verwunderung wahrgenommen wird.[1] Zum anderen aber, da jenseits der bewährten Staatskritik kritische Perspektiven, die in manch anderen Rechtsgebieten bereits etablierter scheinen, im Strafrecht weiterhin Nischencharakter aufweisen, und, mehr noch, zuweilen mit dem Verdacht des Politisch-Aktivistischen behaftet sind. Kritische Theorien, etwa Critical Race Theory, oder feministische Theorien, haben im deutschen Strafrecht bisher keinen selbstverständlichen Platz. Selbst die empirischen Erkenntnisse der kritischen Kriminologie spielen bei der Begründung eines restriktiven Gebrauchs von Strafrecht in der Regel eher eine Nebenrolle.[2] Die Vermutung, dass diese Beobachtungen miteinander in Zusammenhang stehen, liegt zumindest nahe. Burghardt und Steinl haben kürzlich darauf hingewiesen, dass der (mit ebenjener liberalen Tradition in Verbindung gebrachte) Rechtsgutsbegriff für strukturelle gesellschaftliche Machtdynamiken nahezu blind ist.[3] Wenngleich es angesichts der vagen Rechtsgutsdefinitionen nicht ausgeschlossen ist, gesellschaftliche Dynamiken auch in einen systemkritischen Rechtsgutsbegriff zu integrieren, so ist doch immerhin ein individualisierender Effekt des rechtsgutszentrierten Strafrechts zu konstatieren. Das gesellschaftsbezogene Potential des Rechtsgutsbegriffs scheint im Hinblick auf die sozialen Bedingungen des Zusammenlebens als Freie und Gleiche nicht vollends erschöpft. Insbesondere konzentrieren sich die vom Rechtsgutsbegriff durchaus wahrgenommenen sozialen Bedingungen des Zusammenlebens noch immer überwiegend auf die individuell-freiheitssichernde Dimension,[4] während Fragen der Gleichheit bisher eher unbeleuchtet bleiben.[5] Eine rechtsstaatliche Idee von Freiheit kann aber ohne Gleichheit nicht gedacht werden[6] – sowie auch die Bedeutung von

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Freiheit von dem Staat nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass gerade in Fällen gesellschaftlich ungleicher Machtverteilungen, in denen der Zugriff auf die grundlegenden Vorbedingungen für Freiheit ungleich verteilt ist, Freiheit für manche eben auch staatliche Gewährleistungen erfordert, mit anderen Worten: Freiheit durch den Staat.[7]

In diesem Beitrag werde ich zunächst verschiedene Auffassungen vom Wesen einer kritischen Strafrechtswissenschaft beleuchten, bevor ich – ausgehend von dem Verständnis von Kritik als grundlegende critique – mögliche Aufgaben einer kritischen Strafrechtswissenschaft in den Blick nehme. Anschließend werde ich mich dem hierbei aufgeworfenen Konflikt kritischer (zuletzt insbesondere: feministischer) Pönalisierungsbedürfnisse widmen.

B. Strafrechtswissenschaft als per se kritische Wissenschaft?

Kubiciel beschreibt die Strafrechtswissenschaft als eine ihrem Selbstverständnis nach kritische Wissenschaft.[8] Dies führt er u.a. auf die Vorstellung mancher Teile der Strafrechtswissenschaft zurück, eigentlich „Herrin“ der Gesetzgebung zu sein.[9] Er macht aber noch einen weiteren Punkt aus: Das hohe Maß an Legitimationsbedürftigkeit des Strafrechts „als staatlich organisierte Zufügung von Übeln“[10]. Verbunden ist diese Art der Betrachtung mit einer spezifischen Vorstellung von Kritik, anhand eines spezifischen, über Jahrzehnte entwickelten Maßstabs: Kritik gegenüber der Gesetzgebung anhand des Maßstabs der Rationalität. Kritik dient nach diesem Verständnis auch einer spezifischen Funktion, nämlich der „Rationalisierung von Kriminalisierungsdiskursen“[11]. Kritik, die sich des Maßstabs der Rationalität bediene, sei in der Lage zwischen „rechtswissenschaftlich guten und schlechten Begründungen zu unterscheiden“[12]. Der Struktur nach bedient sich diese Form der Kritik vornehmlich projektimmanenter Maßstäbe; das Projekt Strafrecht als solches wird nicht grundlegend bezweifelt, sondern vorrangig optimiert und

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vor vermeintlich externen Einflüssen bewahrt.[13] Mit der zuweilen als Frankfurter Schule des Strafrechts[14] bezeichneten Denktradition sind aber auch deutlich darüberhinausgehende, grundlegendere Kritiken des Strafrechts zu verzeichnen. Zwar steht auch hier die „aufgeklärte Strafrechtskritik“[15] im Zentrum; Jahn und Ziemann machen als Kern der Frankfurter liberal-rechtsstaatlichen Kritik die Forderungen aus, die staatliche Strafgewalt „insbesondere durch die Ausrichtung des materiellen Strafrechts am Schutz individueller Rechtsgüter“ auf ein Kernstrafrecht zu begrenzen, sowie eine „strikte[ ] Subsidiarität des Strafrechts gegenüber anderen typischerweise weniger invasiven Teilrechtsordnungen wie Zivil- und Verwaltungsrecht“[16] einzuhalten (unter Inkaufnahme der Schaffung eines neuen Interventionsrechts). Durch die explizite Einbeziehung sozialwissenschaftlicher und rechtspolitischer Dimensionen geht die hier formulierte Kritik des Strafrechts aber über projektimmanente Maßstäbe hinaus und betrifft die Materie als Ganzes. Juristische Grundlagendisziplinen spiel(t)en eine wesentliche Rolle bei der Begründung des Wesens des Strafrechts und – damit argumentativ verknüpft – seiner Legitimation.[17]

Dieser Blick für projektexterne Maßstäbe ist es gerade, der eine Betrachtung des Strafrechts im Ganzen ermöglicht, wodurch sich grundlegendere Kritik formulieren lässt. Im Gründungsdokument der Kritischen Justiz aus dem Jahr 1968 schreiben Gehlsen, Bauer und Joachim: „Kritische Rechtswissenschaft meint […] die Aufdeckung des Bezugs zwischen Recht und Gesellschaft, seiner politischen, sozialen und gesellschaftspolitischen Implikationen.“[18] Noch schärfer formuliert Zabel: „Rechtskritik ist radikale Rechtsphilosophie. Ihr Ziel ist es, die Selbstgewissheit herrschender Theorien und Praktiken in Frage zu stellen, sie zu dekonstruieren. Das betrifft den wissenschaftlichen Diskurs, die gängigen Begriffe, die Sprache und die Prinzipien.“[19]

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Wie lassen sich nun aber die beschriebenen Formen der Kritik einordnen? Während wir in der deutschen Sprache für die genannten Formen der Kritik üblicherweise dasselbe Wort verwenden, ist die Unterscheidung im englischsprachigen Diskurs einfacher: So lässt sich bereits sprachlich zwischen criticism und critique unterscheiden.[20] Dabei beschreibt criticism eine Form der Kritik, die sich in erster Linie projektimmanenter Maßstäbe bedient; Kritik dieser Art dient nicht der Infragestellung des Projektes als solches, sondern seiner Optimierung. Critique hingegen meint eine grundlegendere Form der Kritik, die – nicht zuletzt über die Heranziehung externer Maßstäbe – das Projekt als Ganzes herausfordert.[21] Während die wissenschaftliche Form des criticism also in der Tat in der deutschen Strafrechtswissenschaft auf breite Unterstützung setzen kann, sind Formen der radikaleren critique nicht gleichermaßen verbreitet. Die Strafrechtswissenschaft ist also in jedem Fall eine analytische Gegnerin für die Gesetzgebung – häufig jedoch vornehmlich mit dem Ziel einer Binnenkohärenz.[22] Kritisch macht das die Strafrechtswissenschaft nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis jedoch nicht. Nach dem soeben skizzierten Verständnis von einer kritischen Strafrechtswissenschaft im Sinne einer critique sollte ihr Blick über die projektimmanenten Maßstäbe hinausgehen. Dazu, wie dies gelingen kann, möchte ich im Folgenden einige – selbstverständlich nicht als abschließend zu verstehende – Überlegungen anstellen.

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Für einen kritischen Blick auf das Projekt des Strafrechts kommen verschiedene Perspektiven in Betracht. Die hier angestellten Überlegungen widmen sich im Wesentlichen einer Kontextualisierung des positiven Rechts und dem Aufdecken verborgener Machtdynamiken. Im Fokus stehen dabei zeitgeschichtliche und diskriminierungssensible Perspektiven. Nicht weiter ausführen werde ich hingegen die grundsätzliche Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlicher Eingriffe – sei es durch das
sozialethi­sche Unwerturteil im Falle eines Strafurteils[23] oder die

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anschließend verhängte Strafe als staatlich auferlegtes Übel. Dass sich eine kritische Strafrechtswissenschaft dieser offenen Gewaltverhältnisse bewusst sein und sie hinterfragen sollte, scheint mir selbstverständlich.

I. Entpolitisierung als Ziel kritischer Strafrechtswissenschaft?

Dass das Strafrecht als staatliches Machtinstrument enorme Instrumentalisierungsrisiken in sich birgt, ist nicht von der Hand zu weisen. Der Einsatz und die Ausrichtung des Strafrechts während des nationalsozialistischen Regimes haben diese Gefahren deutlich gezeigt.[24] Daraus wird von manchen der Schluss gezogen, dass gesellschaftspolitische Erwägungen möglichst aus dem Strafrecht herauszuhalten seien: Naucke etwa beschreibt als Gegenmodell eine strikte Trennung von Staat und Gesellschaft.[25] Das Strafrecht soll so vor kurzfristigen sozialen Bedürfnissen abgeschottet werden; „[d]ie Gesellschaft darf keinen unmittelbaren Zugang zur Bestimmung des Inhalts strafrechtlicher Regeln haben. Dafür verhält sich der Staat ideologisch neutral.“[26] Zwar verkenne das von ihm vorgeschlagene Modell nicht, „daß es sozialen Wandel gibt, aber es hält den sozialen Wandel nicht ungeprüft für etwas Gutes, will dem sozialen Wandel einen unmittelbaren Zugriff auf das Strafgesetz erschweren, will den überkommenen Bestand der Strafgesetze als Argument gegen den sozialen Wandel benutzen.“[27] Den idealen Strafrichter zeichnet Naucke als „wissenschaftlich gebildete[n], politisch kluge[n], humane[n] Bürger, unabsetzbar, unabhängig, nicht versetzbar, nur dem Gesetz unterworfen, kontrolliert durch vernünftig entworfene Besetzung der Spruchkörper und vernünftig entworfene Instanzenzüge. Der gesetzliche Richter […] politisiert nicht.“[28] Deutlich wird dieses Verständnis auch in der Kurzbeschreibung der von Harzer herausgegebenen Reihe „Grundlagen Gesamte Strafrechtswissenschaft“ im Peter Lang-Verlag: „Kritische Strafrechtswissenschaft will aufklären und ist an politik- und zweckfreiem Strafrecht orientiert.“[29] Auch Kubiciel kritisierte kürzlich eine von

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ihm wahrgenommene Politisierung des Strafrechts und seiner Anwendung.[30]

In diesen Ausführungen kommt die Idee zum Ausdruck, „vernünftige“, aufgeklärte Grundsätze und Verfahren seien gewissermaßen politisch neutral. Dagegen ist einzuwenden, dass auch in diesen Rückgriffen auf vermeintlich objektive Kategorien bestimmte politische Grundannahmen und Werte zum Ausdruck kommen. In der Regel verbergen sich hinter objektivierenden Maßstäben die eigenen Vorstellungen von Objektivität, die sich aber von der eigenen Positionalität, d.h. den eigenen Werten, Ansichten und Erfahrungen, nicht trennen lassen.[31] Indem die Grundlagen des eigenen Wissens nicht offengelegt oder gar reflektiert werden, werden mit dem wissenschaftlichen Objektivitätsversprechen letztlich bestimmte Vorannahmen über Normalität verdeckt.[32] Bestehende strukturelle Ungleichheiten und Machtdynamiken bleiben so unsichtbar.[33]

Diese Art kritischer Wissenschaft ist eine, die den Mythos der Objektivität des Rechts eher fördert, denn hinterfragt. Das heißt nicht, dass es nicht Straftatbestände gibt, die mehr oder weniger politisch „aufgeladen“ sind, in denen sich also die Risiken, die mit einer „Politisierung“ beschrieben werden, mehr oder weniger deutlich zeigen – besonders deutlich werden diese Dimensionen seit einiger Zeit wieder in den Diskussionen um die §§ 129 ff. StGB.[34] Politische Dimensionen und Überzeugungen lassen sich aber im Einzelfall auch in vermeintlich „unpolitischen“ Straftaten ausmachen – aktuelles Beispiel wiederum im Zusammenhang mit Umwelt-Aktivist*innen: § 240 StGB.[35] Gleiches gilt aber auch für dogmatische Figuren und Maßstäbe, wie dem „besonnen und gewissenhaft handelnden Menschen“, den Grundlagen der Zurechnung,[36] die Definition eines Angriffs im Rahmen des § 32 II StGB,[37] die Nicht-Anders-

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Abwendbarkeit im Rahmen des § 35 StGB,[38] der (Un-)Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums oder der Definition niedriger Beweggründe im Rahmen des § 211 StGB (bzw. den pauschalen Ausschluss bestimmter Konstellationen von diesen[39]).

Dies ist keineswegs eine Besonderheit des Strafrechts. Kocher etwa hat diese Vorgänge eindrücklich für den Bereich des Privatrechts beschrieben.[40] Das Strafrecht scheint mir allerdings ein Ort für besonders wirkmächtige normative Setzungen, und zwar für die expliziten ebenso wie für die impliziten. Das Strafrecht enthält zahlreiche Wertungen über das vom Durchschnittsmenschen Erwartbare. Die Androhung empfindlicher Übel im Fall der Normübertretung ist zudem mit der Erwartung an eine gewisse Verhaltenssteuerung verbunden;[41] die Verknüpfung mit einem sozialethischen Unwerturteil ist darüber hinaus besonders geeignet, moralische Aussagen über den (Un-)Wert bestimmter Verhaltensweisen zu treffen.[42] Strafrecht ist daher immer auch ein Ort, an dem sich eine Gemeinschaft ihrer selbst und ihrer (mehrheitlich) geteilten Werte versichert; der jeweilige Status Quo gibt Aufschluss über bestimmte Grundüberzeugungen der (Mehrheits-)Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt.[43] Daher scheint mir die Annahme plausibel, dass (Straf-)Recht, aber auch seine systemimmanenten Kategorien und dogmatischen Regeln, per se politisch sind.[44] Es ist stets in seiner politischen, gesellschaftlichen und sozialen Bedingtheit zu betrachten. Mit anderen Worten: Auch das Festhalten an überkommenen und vermeintlich politisch neutralen Konzepten ist eine politische Praxis. Aufgabe einer kritischen Strafrechtswissenschaft kann daher nach nicht sein, Strafrecht zu entpolitisieren, schlicht weil es so etwas wie politikfreies Strafrecht nicht geben kann. Die Vorstellung, Strafrecht durch eine Fokussierung auf überkommene Dogmatik und „vernünftige“ Maßstäbe vor einer Politisierung zu schützen, ist eine trügerische. Stattdessen sollten die – in jedem

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Fall vorhandenen – politischen Annahmen und Überzeugungen offengelegt und reflektiert werden.

II. Zeitgeschichtliche Kontextualisierungen und Kontinuitäten

Insbesondere zeitgeschichtliche Untersuchungen sind in der Lage, die jeweiligen Entstehungsbedingungen von Recht unter Berücksichtigung ihres geschichtlichen Kontextes zu verdeutlichen. So lassen sich Annahmen über vermeintlich „objektive“ oder „politisch neutrale“ Normen dekonstruieren. Auch lässt die Betrachtung der Normgenese Aufschluss über die Zufälligkeiten und zuweilen auch Abgründe konkreter Normgestaltungen zu. Die Beleuchtung des zeitgeschichtlichen Kontextes kann so dazu beitragen, den Eindruck der Objektivität und Neutralität zu mindern. Als Beispiel sei die Strafbarkeit der uneidlichen Falschaussage genannt: Während die Norm aus heutiger Sicht wohl geradezu politisch unverdächtig erscheint, offenbart die Betrachtung der Normgenese ihre menschenverachtenden Prämissen, nämlich die Annahme der „Eidesunfähigkeit von Polen und Juden“ und das hierdurch entstandene „Erfordernis“ einer auf diese „Lücke“ zugeschnittenen Strafbarkeit im Jahr 1943.[45] Weitet man den Blick auf die deutsche Kolonialzeit, zeigt sich, dass das einfache Lügen vor Gericht bereits deutlich vor 1943 in der deutschen Rechtsgeschichte auftaucht – wiederum allerdings nur für marginalisierte, in diesem Fall kolonialisierte Personen.[46]

Zeitgeschichtliche Untersuchungen sind aber zu mehr in der Lage, als den gesellschaftspolitischen Kontext von Normen und ihrer Entstehung aufzuzeigen. Darüber hinaus lassen sich mit ihrer Hilfe zahlreiche (zum Teil versteckte) Kontinuitätslinien zu bereits überwunden geglaubten Überzeugungen aufdecken. Besonders intensiv erfolgte die zeitgeschichtliche Untersuchung von Kontinuitäten aus der NS-Zeit.[47] Neben

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den bekannten Beispielen der §§ 211, 212 StGB[48] oder § 219a StGB a.F.[49] sei hier etwa auf § 240 II StGB hingewiesen: Eingeführt wurden die zusätzlichen Anforderungen der Rechtswidrigkeit zeitgleich zu einer massiven Ausweitung des Tatbestands im Jahr 1943.[50] Absatz 2 lautete mit seinem Inkrafttreten am 15. Juni 1943: „Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht.“ Noch im Jahr 1951 befand der BGH: „Die Anwendung des § 240 StGB auf den von der Strafkammer festgestellten Sachverhalt begegnet jedoch keinen rechtlichen Bedenken. Dabei ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass § 240 in der Fassung der VO vom 29. Juni 1943 anzuwenden ist. […] Absatz 2 ist seinem wirklichen Gehalt nach dahin zu verstehen, dass der Richter bei der Abgrenzung des strafwürdigen Unrechts von nicht strafwürdigem Verhalten nach dem Verhältnis des Mittels zum Zweck auf das Rechtsempfinden des Volkes zu achten hat. Das ist ein alter Grundsatz rechtsstaatlicher Strafrechtspflege […].“[51] Das nationalsozialistische Kriterium des gesunden Volksempfindens wurde erst im Jahr 1953 durch die Verwerflichkeitsklausel ersetzt;[52] die zur Fassung von 1943 getroffenen Ausführungen des Großen Senats für Strafsachen[53] wurden noch im Jahr 2014 für inhaltsgleich mit heutigen Definitionen der Verwerflichkeit befunden.[54]

Aber auch durch die Jahrzehnte der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte lassen sich bestimmte Kontinuitäten in Argumentationsmustern ausmachen, die wohl überwiegend als überwunden angesehen werden. Dazu gehören Verharmlosungen von geschlechtsspezifischer (überwiegend, aber nicht nur sexualisierter) Partnerschaftsgewalt zum Beispiel durch Absehen vom höheren Strafrahmen des Regelbeispiels der Vergewaltigung nach § 177 VI StGB in Fällen vorheriger oder späterer einvernehmlicher sexueller Kontakte,[55] in denen sich dieselben patriarchalen Zugriffsrechte zeigen, die auch in der späten Erfassung ehelicher

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Vergewaltigungen von § 177 I StGB a.F. zum Ausdruck kamen; dazu gehört auch die Bewertung von Vergewaltigungen von Sexarbeiter*innen, denen lange unter Hinweis auf die grundsätzliche Bereitschaft zu bestimmten sexuellen Handlungen der erniedrigende Charakter im Falle ihres Erzwingens abgesprochen wurde;[56] und dazu gehört auch die unkritische Inbezugnahme der Inhalte der sog. Homosexuellen-Entscheidung des BVerfG von 1957 noch im Jahr 1999 zur Begründung der Nichtanwendbarkeit von Art. 3 II und III GG auf § 183 StGB.[57]

III. Aufzeigen von unbenannter Macht und strukturellen Diskriminierungen

Dass ein vernunftorientierter Maßstab der Kritik in der Lage war, das materielle Strafrecht weitgehend von Sittlichkeits- und Moralvorstellungen zu befreien, ist nicht von der Hand zu weisen. Entsprechende Entkriminalisierungsforderungen und -umsetzungen waren ein bedeutsamer Schritt für die Entwicklung eines freiheitssichernden Strafrechts. Während aber die Begründung einer kritischen Perspektive mit einem hohen Legitimationsbedürfnis der Materie des Strafrechts auf unmittelbar einsehbare, und sogar originär bezweckte Machtdimensionen verweist (namentlich das staatliche Gewaltmonopol und das intendierte Zufügen empfindlicher Übel), transportiert und verstärkt das Strafrecht darüber hinaus weitere, versteckte Machtdimensionen, strukturelle Diskriminierungen und stereotype Annahmen.

Die klassistische Dimension des Strafrechts wird nicht nur in Bezug auf die Rechtsfolgen kritisiert: So stehen etwa die strafbare Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein (als Erschleichen von Leistungen) lediglich ordnungswidrigem Falschparken gegenüber; Prostitutionsdelikte zeigen eine Überkriminalisierung von Sexarbeiter*innen,[58] was neben der sozialen auch eine geschlechtsspezifische Dimension aufwirft. Dieses Beispiel verdeutlicht zugleich die Relevanz einer intersektionalen

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Betrachtung. Weniger im Fokus stehen im deutschen Diskurs bisher rassistische Strukturen des materiellen Strafrechts[59] – anders als in der Betrachtung polizeilicher Praxen (Stichwort: racial profiling[60]).[61]

In den letzten Jahren war es insbesondere eine feministische Strafrechtskritik, die sich vermehrt den im Strafrecht vermittelten und perpetuierten Geschlechterhierarchien und Stereotypen widmete.[62] Neben dem besonders naheliegenden Themenfeld des Sexualstrafrechts betrifft die Kritik weitere Fälle geschlechtsspezifischer (insbesondere partnerschaftlicher) Gewalt, aber auch die Kriminalisierung reproduktiver Freiheiten.[63] Der Gegenstand der Kritik variiert dabei: Zuweilen ist es das Recht selbst, das bestimmte Machtdimensionen und Geschlechterbilder perpetuiert; genannt seien hier etwa die §§ 183, 184k und 218 ff. StGB, in denen sich binäre und biologistische Geschlechterbilder ausmachen lassen.[64] In anderen Fällen wiederum finden Geschlechterstereotype über die Überzeugungen und Vorannahmen der Rechtsanwender*innen Eingang in die Rechtswirklichkeit. Als viel diskutiertes Beispiel der letzten Jahre sei auf die Bewertung von Intimpartnerinnen-Tötungen hingewiesen, in denen das Vorliegen niedriger Beweggründe im Fall der (geplanten) Trennung verneint wurde.[65] Auch die bereits angesprochene Verharmlosung von geschlechtsspezifischer Partnerschaftsgewalt gehört in diesen Kontext.

IV. Einbeziehung der sozialen Strafrechtswirklichkeit

Auch wenn Strafrechtswissenschaft und Kriminologie häufig eine gewisse disziplinäre (und damit allzu oft auch personelle) Trennung

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erfahren, so kann eine kritische Strafrechtswissenschaft die Realität des Strafens – die sozialen Rahmenbedingungen und Auswirkungen des eigenen Fachs – nicht außer Acht lassen. Eine Beschäftigung mit den Erkenntnissen der kritischen Kriminologie ist dafür unumgänglich. Die „Wirklichkeit des Strafnormgebrauchs“ – durch Kölbel eindrücklich als die „dunkle Seite des Strafrechts“ bezeichnet – birgt einige negative Effekte, wohingegen zuweilen die Existenz, zumindest wohl aber das Ausmaß einer ausgleichenden „hellen“ Seite des Strafrechts, in Zweifel gezogen wird.

Zurecht vielfach kritisiert wurde etwa die Selektivität des Strafverfolgungsvorgangs:[66] Von der Initiierung der Ermittlungsmaßnahmen bis zur etwaigen Haftentlassung finden eine Reihe von Selektionsentscheidungen statt.[67] Das ist an sich weder verwunderlich noch problematisch. Dass nicht alle Personen, die eine Straftat begangen haben, ihrer auch verdächtigt werden sowie dass nicht alle Tatverdächtigen auch verurteilt werden, liegt in der Natur eines Erkenntnisprozesses wie des Strafverfahrens. Unvermeidbar und damit wohl hinnehmbar sein dürften auch einfache Zufälligkeiten des alltäglichen Lebens, die über den Beginn oder das Ausbleiben von Maßnahmen entscheiden. Problematisch wird es allerdings, wenn sachfremde Selektionskriterien dazu führen, dass bestimmte Personengruppen einem größeren Strafverfolgungs- und damit auch Verurteilungsrisiko ausgesetzt sind.[68] Durch diese Vorgänge werden bestehende gesellschaftliche Diskriminierungsdynamiken verstärkt.

Noch verschärft wird diese Problematik durch die Dysfunktionalität des Strafrechts und seiner Durchsetzung, welche zu weiteren Exklusionseffekten bereits gesellschaftlich marginalisierter und im Selektionsverfahren zusätzlich benachteiligter Gruppen führt. Die mit formeller Kontrolle einhergehende Stigmatisierung und (soziale) Exklusion sowie die Übernahme des erzeugten negativen Fremdbildes als Selbstbild können delinquenzbegünstigende Verhaltensänderungen zur Folge haben.[69] Derartige

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Effekte konnten bei Jugendlichen selbst bei folgenlosen Polizeikontakten beobachtet werden,[70] wobei der Öffentlichkeit des Polizeikontaktes ein verstärkender Effekt zugeschrieben wird.[71] Hinzu kommt, dass sich die negativen Effekte der Strafverfolgung nicht nur auf die unmittelbar von den Verfolgungsmaßnahmen adressierten Personenkreise erstrecken, sondern auch auf Personen aus dem jeweiligen sozialen Umfeld.[72]

Unter dem Stichwort der Dysfunktionalität ebenfalls kritisiert wird die Armenfeindlichkeit der Geldstrafe.[73] Die Möglichkeit, den mit der Sanktion intendierten ökonomischen Freiheitsverlust durch vorhandene Ressourcen auszugleichen, variiert in der Gesellschaft massiv. Auch die Ersatzfreiheitsstrafe ist vermehrt dem Vorwurf sozialer Ungerechtigkeit ausgesetzt.[74] Die jüngste Reform, die zu einer Halbierung des Umrechnungssatzes von Geld- zu Freiheitsstrafe geführt hat,[75] mildert zwar das Ausmaß der Ungerechtigkeit, ist aber nicht geeignet, die bereits im Grundsatz des Mechanismus ansetzende Kritik zu entkräften.[76]

Als Mittel der Aufarbeitung von interpersonellen Konflikten ist das Strafrecht zudem von vornherein nur sehr begrenzt in der Lage: Komplexe Sachverhalte werden zwangsläufig stark verkürzt und vereinfacht. Das Ergebnis ist nicht selten gesellschaftlich unbefriedigend.

Vor dem Hintergrund der zahlreichen negativen exkludierenden und stigmatisierenden, sowie der strukturelle Diskriminierungen verstärkenden Effekte des Strafrechts lässt sich wohl mit guten Gründen das Projekt des Strafrechts insgesamt in Frage stellen. In Konflikt gerät diese auf die Strafrechtswirklichkeit fokussierte Blickrichtung zwangsläufig mit den kritischen Perspektiven auf die normativen Setzungen des materiellen Rechts und seiner Anwendung, die in ihrer Konsequenz auch strafrechtserhaltende, zum Teil sogar strafrechtserweiternde Forderungen mit sich bringen können.

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D. Kritische Pönalisierungsbestrebungen – ein performativer Selbstwiderspruch?

So vielfältig wie die aufgezeigten Macht- und Ungleichheitsdimensionen sind auch die daran anknüpfenden Forderungen feministischer Strafrechtskritik: geschlechtergerechte Auslegung des bestehenden Rechts (insbesondere durch Vermeidung stereotyper Vorannahmen), Entkriminalisierungen (§§ 218 ff. StGB), aber auch Neukriminalisierung bzw. Ausweitung bestehender Straftatbestände (besonders eindrücklich in der vergangenen Reform des Sexualstrafrechts).[77]

Neben dem Vorwurf einer Politisierung sehen sich feministische Pönalisierungsbestrebungen erheblichem Widerspruch aus einer strafrechtskritischen, in großen Teilen selbst dezidiert feministischen Richtung ausgesetzt: Unter der Bezeichnung eines Carceral Feminism werden vor dem Hintergrund einer macht- und somit auch staats- und polizeikritischen Perspektive karzerale Antworten im Grundsatz abgelehnt.[78]

Und in der Tat führt das Aufzeigen struktureller Ungleichheiten im materiellen Recht zu einem Dilemma: Fordert man als Teil der Lösung ein „Mehr“ an Strafrecht, nimmt man die nicht zu leugnenden negativen Effekte des Strafrechts und den Ausbau polizeilicher Befugnisse mit all seinen Problemen in Kauf; verzichtet man auf den strafrechtlichen Teil der Problemlösung, bleibt die strafrechtsimmanente strukturelle Ungleichheitsdimension des Status Quo bestehen. Nun mag es einige Probleme geben, die gar keinen strafrechtlichen Lösungsansatz erfordern; Fortbildungen für Rechtsanwender*innen, aber auch Präventions- und Täterarbeit dürften einige Probleme deutlich besser adressieren. Das leichtfertige Rufen nach strafrechtlichen Lösungen hilft hier nicht weiter. Im Gegenteil: Neben den negativen Effekten der Strafrechtswirklichkeit erkauft man sich durch den einfachen und (zunächst) kostengünstigen Rückgriff auf das Strafrecht auch den Anschein einer Problemlösung, wodurch die eigentlich wichtigen (zum Beispiel präventiven) Ansätze aus dem Blick geraten.

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Das ist aber nicht bei allen identifizierten strukturellen Defiziten der Fall, namentlich dann, wenn die normativen Setzungen selbst Teil des Problems sind. Kann ich also mit meinem Selbstverständnis als kritisch-feministische Strafrechtswissenschaftlerin die Schaffung neuer oder Ausweitung bestehender Straftatbestände fordern, ohne in einen Zustand kognitiver Dissonanz zu geraten? Ich meine: Ja – in Grenzen.

Der vollständige Verzicht auf strafrechtliche (Teil-)Lösungen würde dazu führen, dass die zum jeweiligen Zeitpunkt im Recht vorhandenen gesellschaftlichen Machthierarchien konserviert würden.[79] Die späte gesellschaftliche Anerkennung sexueller Selbstbestimmung führt besonders deutlich patriarchale Verzerrungen des Status Quo vor Augen.[80] Burghardt und Steinl[81] beziehen sich zur Verdeutlichung etwa auf das besonders eingängige Beispiel der Vergewaltigung in der Ehe, die als solche erst 1997 unter Strafe gestellt wurde; den damaligen Kämpfer*innen für die Strafrechtsreform vorzuhalten, sie würden hierdurch nur den staatlichen Machtapparat stärken und zu gesellschaftlicher Stigmatisierung und Exklusion beitragen, wäre geradezu absurd. Solange unser Rechtssystem keine alternativen Formen zur Bewältigung interpersoneller Konflikte anbietet, kann auf das Strafrecht und seine normativen Setzungen nicht vollständig verzichtet werden.[82] Davon zu trennen ist allerdings die wichtige Diskussion um die strafrechtlichen Rechtsfolgen und ihre schädlichen Wirkungen einerseits, sowie außerstrafrechtliche Arbeit mit Täter*innen und Opfern andererseits – diese Diskurse schließen sich nicht aus, sondern sind zeitgleich zu führen.

In anderen Konstellationen scheint der Widerspruch zwischen normativer (machtsensibler) und kriminologischer Kritik deutlich geringer: So dürfte die Forderung nach höheren Strafen in den seltensten Fällen eine machtkritische Funktion erfüllen – abgesehen möglicherweise von massiven Bagatellisierungen diskriminierender Gewalt. Gleiches gilt für die Senkung der Strafmündigkeitsgrenze[83] oder den Ausschluss von Jugendstrafrecht für Heranwachsende.

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Soweit eine konsequente Umsetzung der feministischen Kritik, etwa der Verzicht auf stereotype Argumentationen, zu höheren Strafen führen kann, kommt darin lediglich die grundsätzliche Problematik des strafrechtlichen Sanktionensystems zum Ausdruck, nicht aber ein Spezifikum feministischer Kritik. Bei der vorgebrachten Kritik im Kontext von Femiziden etwa geht es nicht um eine härtere Bestrafung der Täter, sondern um die Bemängelung patriarchaler Argumentationsfiguren. Auch im Sexualstrafrecht sollte es nicht um höhere Strafen als eigenständige Forderung mit intrinsischem Wert gehen,[84] sondern um eine Strafzumessung, die frei von Geschlechterstereotypen und Vergewaltigungsmythen ist.

E. Fazit

Sowohl die normativen Implikationen des Strafrechts als auch seine dysfunktionale Wirklichkeit erfordern eine im Grundsatz kritische Haltung gegenüber dem Einsatz von Strafrecht. Das schließt jedoch nicht pauschal aus, auch Strafrechtserweiterungen zu fordern, sofern dies zur Beseitigung struktureller Gewalt- und Machtverhältnisse dient.

Zeitgeschichtliche Analysen, das Aufzeigen von Kontinuitäten und verdeckten Vorannahmen, können helfen, vermeintlich objektive Annahmen zu entlarven und unsichtbare Macht- und Gewaltdynamiken sowie Stereotype offenzulegen. Diese Art der kritischen Strafrechtswissenschaft ist interdisziplinär und intersektional. Zudem erfordert die Praxis einer kritischen Strafrechtswissenschaft ständige Reflektion und Bewusstseinsbildung in Bezug auf Grundlagen des eigenen Wissens.

Das zum Teil in der deutschen Strafrechtswissenschaft verbreitete Verständnis von Kritik greift für diese Aufgaben zu kurz. Kritische Strafrechtswissenschaft muss mehr wollen, als die eigentlich bessere Strafgesetzgeberin zu sein. Ihre Aufgabe ist es, die politischen Vorannahmen und Stoßrichtungen des positiven Rechts aufzuzeigen und offenzulegen. Dafür bieten sich mit den Betrachtungsperspektiven der Zeitgeschichte und des Antidiskriminierungsrechts zwei Methoden an, die in besonderem Maße geeignet sind, Recht zu kontextualisieren und Objektivitätsvorstellungen zu hinterfragen.


Die Verfasserin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Juristische Zeitgeschichte von Prof. Dr. Florian Jeßberger an der Humboldt-Universität zu Berlin. Kontakt: inga.schuchmann@hu-berlin.de.

Die Autorin dankt Boris Burghardt, Aziz Epik und Andreas Werkmeister.

[1] Appel, Verfassung und Strafe, 1998, 388 f.; Gärditz, Staat und Strafrechtspflege, 2015, 39 ff.; ders. JZ 2016, 641, 648 f.; s. aus der Strafrechtswissenschaft Stuckenberg GA 2011, 653, 658; zu den Vorwürfen der Demokratiefeindlichkeit sowie den dahinterstehenden Demokratieverständnissen ausführlich Werkmeister ARSP 2023, 409 ff.

[2] S. auch Burghardt/Steinl KJ 2024, 14, 26.

[3] Burghardt/Steinl KJ 2024, 14, 26.

[4] Singelnstein in Bäcker/Burchardt (Hrsg.), Strafverfassungsrecht, 2022, 223.

[5] Zu normativen Ungleichheitsdimensionen im Strafrecht sowie Diskriminierungen durch polizeiliche und justizielle Akteur*innen s. Haverkamp/Lukas in Scherr et al. (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung, 2. Aufl. 2023, 397 ff.; zur verfassungsrechtlichen Dimension von Strafgerechtigkeit s. Singelnstein in Bäcker/Burchardt (Hrsg.), Strafverfassungsrecht, 2022, 223 ff.; dazu Barskanmaz in Bäcker/Burchardt (Hrsg.), Strafverfassungsrecht, 2022, 281 ff.

[6] Zum Zusammenspiel von Würde, Freiheit und Gleichheit s. Baer University of Toronto Law Journal 2009, 417, 418 ff.

[7] Zur (auch normativen) Relevanz unterschiedlicher Vulnerabilitätserfahrungen s. Zabel in Hilgendorf/Schuhr (Hrsg.), Festschrift für Jan C. Joerden, 2023, 333, 342 ff.

[8] Kubiciel, Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, 14 ff.; ders. in Barton, Eschelbach, Hettinger et. al (Hrsg.), FS Fischer, 2018, 143, 145.

[9] Kubiciel FS Fischer, 2018, 143.

[10] Kubiciel FS Fischer, 2018, 143, 145.

[11] Kubiciel FS Fischer, 2018, 143, 146.

[12] Kubiciel FS Fischer, 2018, 143, 146.

[13] Zum Verständnis der Strafrechtswissenschaft als Strafbegrenzungswissenschaft Vormbaum ZStW 1995, 734, 744 ff.

[14] S. Jahn/Ziemann JZ 2014, 943 ff.

[15] So Jahn/Ziemann JZ 2014, 943, 947; Roxin in Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, 2005, 175 f.; Prittwitz in Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, 2005, 131, 174.

[16] Jahn/Ziemann JZ 2014, 943, 947.

[17] Hassemer KJ 2005, 2, 14.

[18] Zitiert nach Buckel/Fischer-Lescano/Hanschmann KJ 2008, 235, 236.

[19] Zabel in Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2021, 275.

[20] Vgl. Mégret in Schwöbel-Patel (Hrsg.), Critical Approaches to International Criminal Law, 2014, 17, 18 ff. Die Unterscheidung zwischen Kritizismus und Kritik scheint hierzu nicht gleichermaßen geeignet.

[21] Mégret in Schwöbel-Patel (Hrsg.), Critical Approaches to International Criminal Law, 2014, 17, 18 ff.

[22] Zabel in Hilgendorf/ Schuhr (Hrsg.), Festschrift für Jan C. Joerden, 2023, 333, 336 f.

[23] S. dazu Schuchmann, Das sozialethische Unwerturteil als staatliches Fremdbild, 2024, 77 ff.

[24] Grundlegend Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989.

[25] Naucke in Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), NS-Recht in historischer Perspektive, 1981, 71, 93 f.

[26] Naucke in Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), NS-Recht in historischer Perspektive, 1981, 71, 94.

[27] Nauck in Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), NS-Recht in historischer Perspektive, 1981, 71, 94.

[28] Naucke in Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), NS-Recht in historischer Perspektive, 1981, 71, 94 f.

[29] So auf https://www.peterlang.com/series/ggs (zuletzt abgerufen am: 30.9.2024).

[30] Kubiciel JZ 2024, 167.

[31] Vgl. Kocher KJ 2021, 268.

[32] Kocher KJ 2021, 268 f., 274 („Immunisierungsstrategie“); Zabel KJ 2022, 269, 281.

[33] Zu den durch das „Neutralitätsparadigma“ verschleierten Dynamiken bzw. zur Marginalisierung bestimmter Vulnerabilitätserfahrungen Zabel KJ 2022, 269, 270 bzw. 273.

[34] Zu den Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Letzten Generation wegen des Tatverdachts des § 129 StGB s. nur die Beiträge von Gärditz, Höffler, Koch, König, Kubiciel, von Bernstorff und Wenglarczyk auf dem Verfassungsblog zur Thematik „Kleben und Haften: Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise“, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/category/debates/kleben-und-haften-ziviler-ungehorsam-in-der-klimakrise/ (zuletzt abgerufen am: 30.9.2024); Zöller NSW 2024, 110.

[35] S. dazu Zerbes in Jeßberger/Schuchmann, Der politische Strafprozess, Mohr Siebeck (i.E.).

[36] Zabel in Hilgendorf/ Schuhr (Hrsg.), Festschrift für Jan C. Joerden, 2023, 333, 340 f.

[37] Midey in Petzsche et al. (Hrsg.), Strafrecht und Krise, Nomos (i.E.).

[38] Zabel in Hilgendorf/ Schuhr (Hrsg.), Festschrift für Jan C. Joerden, 2023, 333, 344 f.

[39] Schuchmann/Steinl KJ 2021, 312.

[40] Kocher KJ 2021, 268 ff.

[41] Und das trotz des Wissens um die eher geringen Effekte, vgl. auch Luhmann, Politik der Gesellschaft, 2002, 192.

[42] Schuchmann, Das sozialethische Unwerturteil als staatliches Fremdbild, 2024, 85 ff.

[43] Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 8. Aufl. 2019, 155 ff.; ders., Die Regeln der soziologischen Methode, 9. Aufl. 2019, 157.

[44] Burghardt in Albrecht et al. (Hrsg.), Strafrecht und Politik, 2018, 13, 14 ff.

[45] In Nr. IX der sog. PolenstrafrechtsVO vom 4. Dezember 1941 heißt es: „Polen und Juden werden im Strafverfahren als Zeugen nicht beeidigt; auf eine unwahre uneidliche Aussage vor Gericht finden die Vorschriften über Meineid und Falscheid sinngemäß Anwendung.“ s. dazu Vormbaum, Eid, Meineid und Falschaussage, 1990, 133 f.; ders., Reform der Aussagetatbestände (§§ 153–162 StGB), 2. Aufl. 2012, 12 ff.

[46] § 4 der Dienstvorschrift des Gouverneurs betreffend Kamerun von Mai 1902; der Rechtstext spricht an dieser Stelle von „Farbigen“.

[47] S. etwa Fitting, Analogieverbot und Kontinuität, 2016; Marxen KritV 1990, 287 ff.; Naucke in Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), NS-Recht in historischer Perspektive, 1981, 71 ff.; Vormbaum in Ostendorf (Hrsg.), Strafverfolgung und Strafverzicht. Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein, 1992, 71 ff.; Wolf HFR 1996, 1 ff.

[48] Gefasst durch das Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 4.9.1941, RGBl. I, 549.

[49] § 219a StGB a.F. war zurückzuführen auf §§ 219 und 220 RStGB; diese wurden eingeführt durch das Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26.5.1933, RGBl. I, 295, 296.

[50] Erste Verordnung vom 29.5.1943, RGBl. I, 339, 341 (sog. Strafrechtsangleichungsverordnung).

[51] BGHSt 1, 84; s. hierzu auch Wolf HFR 1996, 1, 7 ff.

[52] 3. StrÄG vom 4.8.1953, BGBl. I, S. 735, 742.

[53] In BGHSt 2, 194, 196, stellte der Große Strafsenat darauf ab, ob die Beziehung zwischen Mittel und Zweck „nach richtigem allgemeinem Urteil sittlich zu mißbilligen“ sei.

[54] BGH NStZ 2014, 149, 152.

[55] BGH NStZ-RR 2010, 9, 10; BGH NStZ 2019, 203, 204; BGH HRRS 2022 Nr. 359 Rn. 6.

[56] So noch BGH NStZ 2001, 369; zwar scheint der BGH neuerdings von dieser Argumentation Abstand genommen zu haben – die Bestätigung eines minder schweren Falls in BGH NStZ 2023, 340 spricht jedoch für eine fortdauernde Berücksichtigung des Umstands, dass die Geschädigte sich zuvor bereiterklärt hatte entsprechende sexuelle Handlungen gegen Entgelt vorzunehmen, s. dazu die Anmerkung von Kett-Straub NStZ 2003, 343, 345.

[57] S. dazu Schuchmann in Januskiewicz et al. (Hrsg.), Geschlechterfragen im Recht, 2021, 91, 106 ff.; zur verfassungsrechtlichen Einordnung beider Entscheidungen s. Valentiner, Das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung, 2021, 241 ff., 285 ff.

[58] Schuchmann, Das sozialethische Unwerturteil, 2024, 193 f.

[59] An der UHH widmet sich derzeit das Forschungsprojekt „Fair Trials in an Unfair System“ (Leitung: Epik) u.a. den strukturellen Rassismen im materiellen Strafrecht, s. https://www.jura.uni-hamburg.de/die-fakultaet/professuren/professur-epik/forschungsprojekte.html (zuletzt abgerufen am: 30.9.2024).

[60] Niemz/Singelnstein in Hunold/Singelnstein (Hrsg.), Rassismus in der Polizei, 2022, 337; Tischbirek/Wihl JZ 2013, 219 ff.

[61] S. umfassend zum Thema Rassismus in der Polizei den Sammelband von Hunold/Singelnstein (Hrsg.), Rassismus in der Polizei, 2022.

[62] S. bereits Bender KJ 1987, 449 ff.; Temme/Künzel (Hrsg.), Hat Strafrecht ein Geschlecht?, 2010; aus den letzten Jahren s. nur Bartsch et al. (Hrsg.), Gender and Crime. Geschlechteraspekte in Kriminologie und Strafrechtswissenschaft, 2022; Schüttler et al. (Hrsg.), Gender and Crime. Sexuelle Selbstbestimmung und geschlechtsspezifische Gewalt, 2024; Schüttler et al. (Hrsg.), Gender and Crime. Strukturelle Ursachen und Verhältnisse geschlechtsspezifischer Gewalt, Nomos (i.E).

[63] S. Çelebi/Schuchmann/Steinl in Schüttler et al. (Hrsg.), Gender and Crime. Sexuelle Selbstbestimmung und geschlechtsspezifische Gewalt, 2024, 11, 20 ff.

[64] Çelebi/Schuchmann/Steinl in Schüttler et al. (Hrsg.), Gender and Crime. Sexuelle Selbstbestimmung und geschlechtsspezifische Gewalt, 2024, 11, 15 ff.

[65] S. dazu Schuchmann/Steinl KJ 2021, 312, 318 f.

[66] Kölbel NK 2019, 249, 257 ff.

[67] S. zu verschiedenen Kriterien der Selektivität Singelnstein in Bäcker/Burchardt (Hrsg.), Strafverfassungsrecht, 2022, 223, 231 ff.

[68] S. dazu Kölbel NK 2019, 249, 258; zu diskriminierenden Selektionsmechanismen in der strafrechtlichen Praxis s. auch Singelnstein in Bäcker/Burchardt (Hrsg.), Strafverfassungsrecht, 2022, 223 ff.; mit einem Fokus auf rassistische Diskriminierungen s. Barskanmaz in Bäcker/Burchardt (Hrsg.), Strafverfassungsrecht, 2022, 281 ff.

[69] Beschrieben wird dieser Vorgang durch etikettierungstheoretische Ansätze (sog. „Labeling Approach“); für einen Überblick s. Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 8. Aufl. 2024, § 10 Rn. 4 ff.; § 55 Rn. 28 ff.

[70] Schulte, Kontrolle und Delinquenz, 2019, 43 f.

[71] Schulte, Kontrolle und Delinquenz, 2019, 53 ff.

[72] Kölbel NK 2019, 249, 262.

[73] Kölbel NK 2019, 249, 261.

[74] S. bereits Albrecht, in Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, 6. Aufl. 2023, § 43 Rn. 2; Köhne JR 2004, 453, 454 ff.

[75] Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26.7.2023, BGBl. I Nr. 203.

[76] S. etwa Bögelein KJ 2023, 258 ff.

[77] S. auch den Überblick bei Çelebi/Schuchmann/Steinl in Schüttler et al. (Hrsg.), Gender and Crime. Sexuelle Selbstbestimmung und geschlechtsspezifische Gewalt, 2024, 11 ff.

[78] S. für den deutschen Diskurs Nickels/Morgenstern in Bartsch et al. (Hrsg.), Gender & Crime. Geschlechteraspekte in Kriminologie und Strafrechtswissenschaft, 2022, 97 ff.; s. auch Burghardt/Steinl KJ 2024, 14, 16 ff.

[79] Burghardt/Steinl KJ 2024, 14, 21.

[80] Zur sog. Status-Quo-Verzerrung im Sexualstrafrecht s. Hörnle KriPoZ 2018, S. 12 f.

[81] Burghardt/Steinl KJ 2024, 14, 23.

[82] Burghardt/Steinl KJ 2024, 14, 21 f.

[83] S. dazu Fett in Petzsche et al. (Hrsg.), Strafrecht und Krise, Abschnitt IV, Nomos (i.E.).

[84] Insofern zurecht kritisch Kölbel/Lindner StV 2024, 322 ff.