Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem Konzept von Restorative Justice aus einer rechtssoziologischen Perspektive. Positivrechtliche und praxisbezogene Aspekte des Themas spielen dabei nur indirekt eine Rolle. Zunächst wird das Konzept mit Blick auf die drei von Georg Simmel analysierten soziologischen Kategorien Sieg/Niederlage, Kompromiss und Versöhnung als Modi der Streitbeendigung diskutiert. Gezeigt wird, dass das Konzept der Restorative Justice Elemente aller drei Kategorien vereinigt. Anschließend wird dargestellt, was Restorative Justice im Vergleich zum herkömmlichen Strafsystem auszeichnet: Ihre soziologische/kollektive Sichtweise von Verantwortung. Auf die Bedeutung und Berechtigung dieser Sichtweise im Strafjustizsystem hat zuletzt Geoffroy de Lagasnerie aufmerksam gemacht, dessen Argumente hier aufgegriffen werden.
A. Einleitung
Sieg/Niederlage, Kompromiss und Versöhnung sind Georg Simmel zufolge die drei Modi einer Streitbeendigung.[1] Sieg sei die „einfachste und radikalste Art, vom Kampf zum Frieden zu kommen“, und er kommt entweder durch das „Übergewicht der einen Partei“ zustande oder durch
„Resignation“ der anderen.[2] Als voraussetzungsreicher beschreibt Simmel den Kompromiss, dem die Logik des Tausches innewohnt. („Aller Tausch um Dinge ist ein Kompromiss“).[3] Der Kompromiss setzt die Fungibilität der Streitgegenstände voraus sowie, dass sich Interessen objektivieren lassen.[4] Auf einen „bewerteten Gegenstand“ wird verzichtet, weil man einen Ersatzwert dafür erhält.[5] Entgegengesetzte Interessen, deren Wert von allen Konfliktparteien bestimmt wird, können so ohne Kampf durchgesetzt werden.[6] Ohne Kampf wird der Streit auch im Falle einer Versöhnung beendet. Hier wird auf „Rache“ gegen den „Feind“ verzichtet.[7]
Vergegenwärtigt man sich, dass Rechtskonflikte, die (vermeintliche) Straftaten hervorrufen, auch soziale Konflikte sind,[8] lassen sich die soziologischen Beobachtungen Simmels in das System der Strafjustiz übertragen. Die jeweiligen Logiken der drei Arten von Streitbeendigung, Sieg/Niederlage, Kompromiss, Versöhnung, könnte man zunächst in den folgenden drei justiziellen Reaktionen verwirklicht sehen: Strafe, Verständigung (Deal) und Maßnahmen restaurativer Gerechtigkeit. Strafe verspricht Friedensherstellung, indem der konkrete soziale Konflikt zwischen Täter und Opfer im Sinne eines „Kampfes“ gegen die Rechtsordnung als solche universalisiert wird[9] und der Täter als besiegte Partei dieses Kampfes hingestellt wird. Die Verständigung hat, anders als die Strafe, einen Kompromisscharakter. Das Geständnis einer Konfliktpartei (Beschuldigte) wird zum
„bewerteten Gegenstand, weil man das in ihm enthaltene Wertquantum in andrer Form erhält“,[10]
in einer Strafmilderung. Durch den Tausch verspricht man sich eine beschleunigte Rückkehr in den Friedenszustand. Was nun die Maßnahmen restaurativer Gerechtigkeit (Restorative Justice) betrifft, wird von ihnen Wiederherstellung von Frieden durch Versöhnung erwartet. Das, was
Simmel Verzicht auf „Rache“ gegen den „Feind“ nennt, lässt sich im Justizsystem zunächst einmal so übersetzen: Verzicht des Opfers einer Straftat auf die „Schmerzzufügung“ gegen den Täter. Dies soll faktisch das Ergebnis einer konstruktiven Mediation zwischen Opfer und Täter im Kontext restaurativer Gerechtigkeit sein.
Im Folgenden soll dieser letzte Modus der Streitbeendigung, die restaurative Gerechtigkeit, genauer in den Blick genommen und im Zusammenhang mit den zwei anderen Arten der Friedensherstellung kritisch beleuchtet werden. Geht es hier tatsächlich um reine Versöhnung oder sind nicht vielmehr Elemente des Kompromisses oder sogar des Sieges und der Niederlage aufzuspüren? Sollten solche Elemente vorhanden sein: Was spricht gleichwohl für das Aufrechterhalten dieses dritten Weges der Konfliktbewältigung als eigenständige Reaktion auf Straftaten im Justizsystem?
B. Versöhnung, Kompromiss oder Sieg?
Zunächst gilt es, den Begriff der Versöhnung als Art der Konfliktbewältigung zu bestimmen. Simmel nennt als wesentliches Moment der Versöhnung die Versöhnlichkeit.[11] Damit stellt die Versöhnung einen „rein subjektiven“ Vorgang dar.[12]
„Die Versöhnlichkeit ist eine primäre Stimmung, die, ganz jenseits objektiver Gründe, den Kampf ebenso zu beenden sucht, wie die Streitlust, nicht weniger ohne sachliche Veranlassung, ihn unterhält.“[13]
erklärt Simmel. Die Versöhnlichkeit kann sich dann im Modus der Verzeihung bzw. der Vergebung äußern.[14] Damit hat die Konfliktpartei „Opfer“ die zentrale Rolle bei der Streitbewältigung inne. Verzeihung und Vergebung kann nur das Opfer leisten.[15] Die zwei Vorgänge sind zwar unterschiedlich konnotiert, sie lassen sich aber als Synonyme verwenden. Svenja Flaßpöhler weist auf die passive Dimension des Verzeihens hin, die verzeihende Person verzichtet auf Vergeltung, Wiedergutmachung, Begleichung.[16] Die Vergebung setzt anders als das Verzeihen auch ein
aktives Moment des Schenkens (der Gabe) voraus, ein Akt, den man von einer Gottheit erwartet.[17] Gleichwohl lässt sich auch der Verzicht auf die Schmerzzufügung als Ausgleich für erfahrenes Unrecht, wie Flaßpöhler erklärt, als Geschenk verstehen.[18] In diesem Sinne ist auch Verzeihung „eine Geste der Transzendenz“ und damit kann sie vom Vergeben nicht abgegrenzt werden.[19]
Dass dem Konzept restaurativer Gerechtigkeit ein Versöhnungsverständnis, das Verzeihung und Vergebung voraussetzt, nicht zugrunde liegt, ist mehr als offensichtlich, wenn man an seine häufigste Form,[20] den Täter-Opfer-Ausgleich (TOA), denkt. Der TOA ist ein außergerichtliches Verfahren, bei dem die Kommunikation und der Austausch zwischen Beschuldigten und Verletzten gefördert werden soll.[21] Dabei soll eine positive Beziehung zwischen den zwei Konfliktparteien hergestellt werden,[22] auf deren Basis die Folgen der Straftat ausdiskutiert und geregelt werden.[23] Nach § 155a StPO sollen die Staatsanwaltschaft und das Gericht in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeiten prüfen, einen Ausgleich zwischen Beschuldigtem und Verletztem zu erreichen. Die außergerichtliche Wiederherstellung von Frieden kann, wenn die Deliktsschwere dies zulässt, mit einer Verfahrenseinstellung oder Absehen von Strafe verbunden sein.[24]
Die Befriedungsfunktion soll durch Zurückdrängung des Vergeltungsprinzips geleistet werden – es wird seitens des Opfers auf „Rache“ verzichtet – aber nicht ohne Kompensationen.[25] Materieller Ausgleich durch Schadensersatz und Schmerzensgeld, Entschuldigung oder Eingeständnis der Tat seitens des Beschuldigten sind hierbei erforderlich,[26] um die „Versöhnlichkeit“ des Verletzten anzuregen. Die „primäre Stimmung“
(Simmel) der Versöhnlichkeit ist zum Teil das Produkt eines Kompromisses, einer Art „Tausch“. Wenn man also von Versöhnung im Rahmen der restaurativen Gerechtigkeit spricht, meint man keinen „rein subjektiven“ Vorgang „jenseits objektiver Gründe“.[27] Die Verwandtschaft des TOA mit dem Deal, vor allem wenn dieser im Ermittlungsverfahren stattfindet, lässt sich nicht übersehen. Damit ergeben sich Probleme, die aus dem Bereich der Verständigung bekannt sind: Probleme bezüglich der Selbstbelastungsfreiheit und der Unschuldsvermutung.[28] In der Versöhnungs-Kompromiss-Kommunikation zwischen den Konfliktbeteiligten kommt es zu einer frühen Rollenzuweisung von Täter und Opfer.[29] Daher ist es wichtig, dass die beschuldigte Person mit der Rollenverteilung einverstanden ist.[30] Allein die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung aufgrund der Beweislage sollte nicht die Rollenzuweisung des Täters rechtfertigen.[31]
Neben diesem kompromisshaften Versöhnungsansatz, der im TOA und in anderen Formen der Schadenswiedergutmachung zum Ausdruck kommt, lässt sich noch ein weiteres Verständnis von Versöhnung beobachten. Dieses ist besonders im Kontext von Transitional-Justice-Prozessen ausgearbeitet.[32] Mit dem Begriff Transitional Justice werden juristische sowie politische Aufarbeitungsprozesse von begangenem Unrecht und Menschenrechtsverletzungen innerhalb von makrokriminellen Kontexten (Diktaturen, Bürgerkriege) gemeint.[33] Transitional-Justice-Prozesse zielen auf eine kollektive Vergangenheitsbewältigung durch Versöhnung auf Gruppenebene ab.[34] Versöhnung soll hier nicht allein durch Strategien der Wiedergutmachung, sondern durch psychologisch konnotierte Heilungsprozesse erreicht werden.[35] Es wird angenommen, dass die Offenlegung von Wahrheit seitens des Täters sowie die Möglichkeit über das eigene Leid in der Öffentlichkeit zu berichten, Opfern hilft, die Unrechtserfahrungen hinter sich zu lassen.[36] So soll gesellschaftliche
Versöhnung gefördert werden. Es handelt sich hier um einen opferzentrierten Ansatz von Versöhnung, der an psychologische Trauma-Bewältigungskonzepte anknüpft. In der kompromisshaften Versöhnungsausrichtung von TOA sind Elemente dieses Ansatzes stark vertreten. In der Situation des TOA soll dem Opfer ermöglicht werden, über seine Belastungen, Sorgen, Ängste zu sprechen, um sie abzubauen.[37] Noch deutlicher als im TOA kommt das psychologisch konnotierte Versöhnungskonzept der Transitional Justice in Formen von restaurativer Gerechtigkeit, wie den Peacemaking bzw. Sharing Circles oder den Gemeinschaftskonferenzen, zum Ausdruck.[38] Kreise und Gemeinschaften bilden hier einen Ausschnitt der Öffentlichkeit, in dem Konflikte ausgetragen werden und Opferleid kommuniziert wird. Das Leid des Opfers wird öffentlich anerkannt, dies fungiert als Bedingung der Versöhnung.
Fasst man das bisher Gesagte zusammen, lässt sich feststellen: Praktiken von restaurativer Gerechtigkeit stellen auf Kompromiss und Heilung ab. Daher überrascht es nicht, dass in der Literatur folgende drei Fragen als zentrale Aspekte von Restorative Justice genannt werden: „Wer wurde verletzt?“, „Was benötigen diese Menschen?“ und „Wessen Verpflichtung und Verantwortung ist das?“.[39] Dies soll ein Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Vergeltungsfunktion der Strafe sein.[40] Dort stellen sich drei andere Fragen: „Welche Gesetze wurden übertreten?“, „Wer hat es getan?“ und „Was verdienen sie [welche Sanktionen]?“.[41] Diese Fragen folgen, so die verbreitete Auffassung, anders als die restaurative Gerechtigkeit, der Vergeltungslogik.[42] Ob allerdings zwischen einer nicht vergeltenden (nicht schmerzzufügenden) restaurativen Gerechtigkeit und einer vergeltenden (schmerzzufügenden) Strafe so eindeutig abgegrenzt werden kann, lässt sich hinterfragen.
Sind die Aussetzung des vermeintlichen Täters gegenüber einem Kollektiv (Friedenskreis oder einer erweiterten TOA-Konstellation) und die Erwartung von Verantwortungsübernahme nicht eine Art Schmerzzufügung, die mit Schamgefühlen und Beschämungsmomenten verbunden
ist? Das „Shaming“ (vorausgesetzt, es wird hierbei die Würde des Beschuldigten geachtet, was in einer Gruppensituation ein besonders schwieriges Unterfangen ist) kann möglicherweise den Täter zur Einsicht in das begangene Unrecht bewegen (re-integrative shaming).[43] Gleichwohl ist die Schmerzzufügung hierbei kaum zu übersehen. Gerade in der Konstellation der restaurativen Gerechtigkeit zeigt sich, worin die eigentliche Schmerzzufügung einer Strafe bestehen kann: In dem sozialethischen Unwerturteil selbst. Es ist auch kein Zufall, dass das Ordnungswidrigkeitenrecht als ein milderes Sanktionssystem als das Strafsystem wahrgenommen wird, auch wenn Geldbußen hoch ausfallen können. Setzt man sich daher für den Verzicht auf Strafschmerz ein und fordert nach Alternativen zur Strafe, sollte man sich nicht allein auf die Inhaftierung im Rahmen einer Freiheitsstrafe oder auf die Vermögenseinbuße bei einer Geldstrafe fokussieren. Das Shaming-Moment ist Teil des zugefügten Strafschmerzes. Vor diesem Hintergrund ist das Versöhnungskonzept der restaurativen Gerechtigkeit keine echte Alternative zur Strafe, wie oft vertreten wird, sondern eine Strafvariante. Findet diese Strafvariante nicht unter Bedingungen statt, die die Würde der beschuldigten Person schützen, kann eine desintegrative und stigmatisierte Wirkung entfaltet werden, die mit derjenigen der herkömmlichen Strafe vergleichbar ist.[44]
Kommen wir nun auf die oben aufgeworfene erste Frage zurück: Geht es bei der restaurativen Gerechtigkeit tatsächlich um reine Versöhnung oder sind nicht vielmehr Elemente des Kompromisses oder sogar des Sieges und der Niederlage aufzuspüren? Nach den obenstehenden Ausführungen dürfte die hiesige Antwort bereits deutlich geworden sein: Im Konzept der restaurativen Gerechtigkeit lässt sich die Unterscheidung von Sieg/Niederlage, Kompromiss und Versöhnung als Streitbeendigungsmodi nicht aufrechterhalten. Restorative Justice nimmt alle drei Arten in sich auf und lässt sich als eine Strafvariante mit kompromisshaft-versöhnendem Charakter definieren.
C. Was macht die Restorative Justice anders als das herkömmliche Bestrafungssystem?
Nachdem wir zunächst das Konzept definiert haben, wenden wir uns nun der in der Einleitung aufgeworfenen zweiten Frage zu: Was spricht für den Einsatz von Restorative Justice als eigenständige Reaktion auf Gesetzesübertretungen im Strafjustizsystem? Was leistet das Konzept anderes als die herkömmliche Strafe? Die Antwort auf diese Frage lässt sich erst gewinnen, wenn man weniger opferzentriert denkt und die „restaurative Brille“[45] stärker auf die Konfliktpartei „Täter bzw. Beschuldigte“ richtet. Der Ertrag des restaurativen Ansatzes mit Blick auf den Täter ist dann mit demjenigen der herkömmlichen strafenden Gerechtigkeit zu vergleichen. Sowohl die restaurative als auch die herkömmliche strafende Gerechtigkeit gehen, wie gezeigt wurde, von derselben Prämisse aus, dass der Täter/die Täterin etwas schuldet, etwas auszugleichen hat.[46] Beide Ansätze zielen darauf, dass der Täter Verantwortung für den errichteten Schaden übernimmt und Reue zeigt.
Was allerdings die Strafe betrifft, wird nicht selten angezweifelt, ob sie diesen Erwartungen gerecht wird, ob sie beim Täter Reue und Gefühle der Schuld tatsächlich erwecken kann. Eine der jüngeren Kritiken stammt aus dem Bereich der kritischen Soziologie. Geoffroys de Lagasnerie argumentiert in seinem Buch „Verurteilen“, dass, wenn der Staat auf Gesetzesverletzungen durch Gewaltakte reagiert, die den Handlungen des Straftäters in ihrer Gewaltförmigkeit ähnlich sind, dies eher Verhärtung als Reue beim Straftäter hervorruft.[47] Lagasnerie bezieht sich hierbei auf Nietzsches bekannte Strafkritik in der Genealogie der Moral:
„Die Strafe soll den Werth haben, das Gefühl der Schuld im Schuldigen aufzuwecken, man sucht in ihr das eigentliche instrumentum jener seelischen Reaktion, welche „schlechtes Gewissen“, „Gewissenbiss“ genannt wird. […] Denken wir aber gar an jene Jahrtausende vor der Geschichte des Menschen, so darf man unbedenklich urtheilen, dass gerade durch die Strafe die Entwicklung des Schuldgefühls am kräftigsten aufgehalten worden ist […]. Unterschätzen wir nämlich nicht inwiefern der Verbrecher gerade durch den Anblick der gerichtlichen vollziehenden Prozeduren selbst verhindert wird, seine That, die Art seiner Handlung, an sich als verwerflich zu empfinden: denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst der
Gerechtigkeit verübt und dann gut geheissen, mit gutem Gewissen verübt; also Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffliche und durchtriebene Polizisten- und Anklägerkunst, sodann das grundsätzliche, selbst nicht durch den Affekt entschuldigte Berauben, Überwältigen, Beschimpfen, Gefangennehmen, Foltern, Morden, wie es in den verschiedenen Arten der Strafe sich ausprägt, – Alles somit von seinen Richtern keineswegs an sich verworfene und verurteilte Handlungen, sondern nur in einer gewissen Hinsicht und Nutzanwendung. Das „schlechte Gewissen“, diese unheimlichste und interessanteste Pflanze unsrer irdischen Vegetation, ist nicht auf diesem Boden gewachsen.“[48]
Lagasnerie macht sich Nietzsches Kritik zu eigen und sieht, wie dieser, einen „Antagonismus zwischen der Logik der Bestrafung und der Logik der Reue […]“.[49]
Lagasnerie sucht daher nach Arten der Überwindung der Bestrafungslogik, die das Gegenteil von Reue hervorbringen. Die Lösung sieht er darin, den Rechtskonflikt „in einem nichtindividualisierenden Rahmen zu denken“.[50] Das Strafsystem ist ein System der individualisierten Verantwortlichkeit, der Individualhaftung.[51] Es geht immer darum, schuldige Subjekte zu finden.[52] Werden die individuellen Akteure genannt, werden Kollektive von der Verantwortungszuschreibung entlastet.[53]
„Das soziologische Denken schlägt […] eine andere Sichtweise der ‚Verantwortlichkeit‘ vor“ [54]
meint Lagasnerie. Die „andere Sichtweise“ sei eine kollektive, d.h. die wechselseitige Verstricktheit in der Gesellschaft wird wahrgenommen.[55] Aus der wechselseitigen Verstricktheit ergibt sich, gibt Lagasnerie zu, „ein[e] nahezu unbegrenzte Verantwortlichkeit“ aller.[56] Das Individualisierungskonzept der Strafe ermöglicht es, die Zurechnungskette abzubrechen. Für Lagasnerie geht es aber hier über den Zurechnungsabbruch hinaus vor allem darum,
„nicht alle anderen zu bestrafen. Es geht darum, jedem von uns die Möglichkeit einzuräumen, sich nicht für das verantwortlich zu fühlen, was in der Welt geschieht.“[57]
Erst die kollektive Wahrnehmung eines strafrechtlich relevanten Geschehens ermöglicht es, auch kollektive Verantwortung zu empfinden und zu übernehmen.
Fühlt sich die Gemeinschaft mitverantwortlich für die Tat des Einzelnen, kann dem Täter der Weg zur Reue erleichtert werden. Der Soziologe Howard Zehr berichtet darüber, dass Täter oft die Selbstwahrnehmung des Opfers haben.[58] Wenn dieses Empfinden, selbst Opfer zu sein, anerkannt wird, wenn ihre eigenen Verletzungen angesprochen werden, sind sie schneller bereit, Verantwortung für das dem Opfer zugefügte Leid zu übernehmen.[59] Dies kann und soll Restorative Justice leisten. Vor allem in solchen Formen der Restorative Justice, die die Gemeinschaft einbeziehen (immer vorausgesetzt, dass Bedingungen eines diskriminierungssensiblen und menschenwürdigen Umgangs mit den Betroffenen gewährleistet sind), kann der Rechtskonflikt, wie Lagasnerie vorschlägt, in einem nichtindividualisierenden Rahmen gedacht werden.[60] Sharing Circles und Conferencing bieten sich als solche Rahmen an. Diese gruppenzentrierten Ansätze gehen auf indigenes Erfahrungswissen bei der Entwicklung von Unterstützungsstrategien und Problemlösungen zurück und basieren auf einem Wir-Denken.[61] Sharing Circles und Conferencing signalisieren die Bereitschaft der Gemeinschaft ihre eigene Verstrickung in den Konflikt anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen.
„Das ‚schlechte Gewissen‘, diese unheimlichste und interessanteste Pflanze unsrer irdischen Vegetation“[62]
kann möglicherweise auf diesem Boden besser wachsen.
D. Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen: In soziologischer Hinsicht lassen sich drei Arten der Streitbeendigung unterscheiden: Sieg/Niederlage, Kompromiss und Versöhnung als reiner subjektiver Modus des Verzeihens. Diese soziologischen Kategorien, könnte man auf den ersten Blick meinen, korrespondieren jeweils mit den rechtlichen Instituten der Strafe, des Deals und der restaurativen Gerechtigkeit. Die Parallelität geht allerdings nicht ganz auf. Das Konzept der restaurativen Gerechtigkeit nimmt alle drei Arten in sich auf. Es wurde gezeigt, dass es sich hier eigentlich um eine Strafvariante mit kompromisshaft-versöhnendem Charakter handelt. Als wesentlicher Vorteil von restaurativer Gerechtigkeit gegenüber der herkömmlichen strafenden Gerechtigkeit wurde die ihr zugrunde liegende erweiterte Sichtweise auf „Verantwortlichkeit“ genannt. Man geht über das individualisierende Verständnis von Verantwortung hinaus und nimmt so kollektive Verantwortung wahr. Dem Konzept Restorative Justice liegt daher eine soziologische Sichtweise i.S. von Lagasnerie zugrunde.[63] Die soziologische Sichtweise erlaubt es, dass im Rahmen der restaurativen Gerechtigkeit die Gemeinschaft besser als bei der herkömmlichen strafenden Gerechtigkeit kommuniziert, dass sie Mitverantwortung nicht nur gegenüber dem Opfer, sondern auch gegenüber dem Täter trägt. Es ist daher zutreffend, wenn Zehr im Zusammenhang mit Praktiken von Restorative Justice Opfer und Täter als „fairsöhnt“[64] bezeichnet.
Die Autorin ist Strafrechtsprofessorin an der BSP Business & Law School Berlin. Kontakt: georgia.stefanopoulou@businessschool-berlin.de
[1] Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe. Band 11, 1992, S. 373 ff.
[2] Simmel (Fn. 1), S. 373.
[3] Simmel (Fn. 1), S. 376.
[4] Simmel (Fn. 1), S. 376.
[5] Simmel (Fn. 1), S. 376.
[6] Simmel (Fn. 1), S. 376.
[7] Simmel (Fn. 1), S. 377.
[8] Vgl. Hagemann/Magiera in Bartsch/Hoven/Limperg/Maelicke/Merckle (Hrsg.), Resozialisierung, Opferschutz, Restorative Justice. Grundlagen und Rahmenbedingungen, 2023, 64.
[9] Vgl. Lagasnerie, Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie, 2017, S. 206.
[10] Simmel (Fn. 1), S. 376.
[11] Simmel (Fn. 1), S. 376 f.
[12] Simmel (Fn. 1), S. 376.
[13] Simmel (Fn. 1), S. 377.
[14] Simmel (Fn. 1), S. 377.
[15] Vgl. Ottendörfer in Mihl/G. Pickel/S. Pickel (Hrsg.), Handbuch Transitional Justice. Aufarbeitung von Unrecht – hin zur Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, 2018, 66 f.
[16] Flaßpöhler, Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld, 4. Aufl. 2022, S. 19 ff.
[17]Flaßpöhler (Fn. 16), S. 22.
[18] Flaßpöhler (Fn. 16), S. 22.
[19] Flaßpöhler (Fn. 16), S. 22 f.
[20] Der Täter-Opfer-Ausgleich wird als das „Aushängeschild“ von restaurativer Gerechtigkeit in Deutschland bezeichnet, Hommel Freilaw 2020, 37.
[21] Dazu ausführlich Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 6. Aufl. 2025, S. 411 ff.
[22] Ottendörfer (Fn. 15), S. 67.
[23] Meier (Fn. 21), S. 411.
[24] Dazu Meier (Fn. 21), S. 417.
[25] S. Schlickum/Weiler in Kaspar/Weiler/Schlickum (Hrsg.), Der Täter-Opfer-Ausgleich. Recht, Methodik, Falldokumentation, 2014, 1.
[26] Mit Blick auf die Breite der Kompensationen (materielle und immaterielle Leistungen des Täters) spricht man vom TOA im weiten Sinne, Kaspar in Kaspar/Weiler/Schlickum (Hrsg.), Der Täter-Opfer-Ausgleich. Recht, Methodik, Falldokumentation, 2014, 7. Stehen immaterielle Leistungen des Täters im Vordergrund, dann ist die Rede vom TOA im engen Sinn, Kaspar (Fn. 26), S. 7.
[27] So Simmel über die Versöhnung, Simmel (Fn. 1), S. 376.
[28] Dazu Hommel Freilaw 2020, 37, 39.
[29] S. Kaspar (Fn. 26), S. 7, 9; Meier (Fn. 21), S. 419 f.
[30] Meier (Fn. 21), S. 420.
[31] Meier (Fn. 21), S. 420.
[32] Ottendörfer (Fn. 15), S. 67.
[33] Mihr/G. Pickel/S. Pickel in Mihr/G. Pickel/S. Pickel (Hrsg.), Handbuch Transitional Justice. Aufarbeitung vom Unrecht – hin zur Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, 2018, 3.
[34] Ottendörfer (Fn. 15), S. 66.
[35] Ottendörfer (Fn. 15), S. 67.
[36] Ottendörfer (Fn. 15), S. 67.
[37] S. etwa Meier (Fn. 21), S. 412.
[38] Zu den Gemeinschaftskonferenzen und den Circles s. etwa Malzahn, Restorative Justice. Eine radikale Vision, 2022, S. 63 ff.
[39] Zehr, Fairsöhnt. Restaurative Gerechtigkeit. Wie Opfer und Täter heil werden können, 2010, S. 80; s. auch Hagemann/Magiera (Fn. 8), S. 63.
[40] Hagemann/Magiera (Fn. 8), S. 63; vgl. Zehr (Fn. 39), S. 75 ff.
[41] Zehr (Fn. 39), S. 80; Hagemann/Magiera (Fn. 8), S. 63.
[42] Hagemann/Magiera (Fn. 8), S. 63.
[43] Malzahn (Fn. 38), S. 34 f.
[44] Vgl. Malzahn (Fn. 38), S. 34 f. Vgl. zu diesem Problem auch die in der Strafrechtsphilosophie diskutierte Frage, ob sich mit dem von Klaus Günther und anderen vertretenen Konzept einer Entkoppelung des Schuldspruchs von der Übelszufügung das Problem des Strafschmerzes lösen lässt, s. dazu Zabel, Kritik der strafenden Vernunft, 2025, S. 297 ff., der sich mit Miranda Frickers performativer Analyse moralischer Beschuldigungspraktiken auseinandersetzt, die auf die Schmerzkomponente im Schuldvorwurf hinweist.
[45] Zehr (Fn. 39), S. 44.
[46] So Zehr (Fn. 39), S. 76.
[47] Lagasnerie (Fn. 9), S. 81.
[48] Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 2019, S. 73; zit. auch bei Lagasnerie (Fn. 9), S. 80 ff.
[49] Nietzsche (Fn. 48), S. 74; Lagasnerie (Fn. 9), S. 80 ff.
[50] Lagasnerie (Fn. 9), S. 106. Zu Lagasneries Dekonstruktion individualisierender Zurechnung s. Zabel (Fn. 44), S. 239 ff.
[51] Lagasnerie (Fn. 9), S. 107 ff., 114 f.
[52] Lagasnerie (Fn. 9), S. 118 f.
[53] Lagasnerie (Fn. 9), S. 119.
[54] Lagasnerie (Fn. 9), S. 124.
[55] Lagasnerie (Fn. 9), S. 118.
[56] Lagasnerie (Fn. 9), S. 118.
[57] Lagasnerie (Fn. 9), S. 119. In der Begründung seines Konzepts der Nichtverantwortlichkeit greift Lagasnerie auf Paul Fauconnet zurück, einem Schüler Durkheims, der in seiner Schrift La Responsibilité (1920) die Kontingenz und die Künstlichkeit von Verantwortungszuschreibungen hervorhebt, s. dazu Zabel (Fn. 44), S. 239 ff., 242 ff.
[58] Zehr (Fn. 39), S. 40.
[59] Zehr (Fn. 39), S. 40.
[60] Vgl. Malzahn (Fn. 38), S. 11.
[61] Straub in socialnet, Indigene Ansätze in der Sozialen Arbeit, abrufbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/Indigene-Ansaetze-in-der-Sozialen-Arbeit, zuletzt abgerufen am 15.7.2025.
[62] Nietzsche (Fn. 48), S. 74.
[63] S. Lagasnerie (Fn. 9), S. 127; vgl. Mahlzahn (Fn. 38), S. 11.
[64] So der Titel des Buches von Zehr (Fn. 39).