Strafrecht und Krise

Tagungsbericht zum Zehnten Symposium des Jungen Strafrechts vom 14. bis 16. März 2024 in Berlin

Reference: NSW 2024, 239-254
DOI: 10.61039/29427509-2024-19

Von der Finanz- und Eurokrise über die „Migrationskrise“ bis hin zur Corona- und Klimakrise: Gerade die zeitliche Koinzidenz und Überlagerung verschiedener Krisen stellt auch das Strafrecht vor Herausforderungen. Die hierdurch entstandenen Rechtsprobleme waren Gegenstand des Symposiums des Jungen Strafrechts, das ausgehend von den Grundlagen des Strafrechts als Mittel der Krisenbewältigung den strafrechtlichen Umgang mit einzelnen Krisen kritisch beleuchtete.

Das 10. Symposium des Jungen Strafrechts fand vom 14. bis 16. März 2024 an der Humboldt-Universität zu Berlin statt und wurde von Dr. Anneke Petzsche (HU Berlin), Dr. Inga Schuchmann (HU Berlin), Dr. Leonie Steinl (Münster) und Dr. Andreas Werkmeister (HU Berlin) organisiert. Zur Jubiläumstagung fanden sich unter dem Leitthema „Strafrecht und Krise“ rund 150 Nachwuchswissenschaftler*innen zusammen, um über den Anspruch und den Zustand des Strafrechts im Angesicht multipolarer Krisenerfahrungen zu diskutieren.

A. Rahmenprogramm

Das Organisationsteam hat dabei auch abseits der Vorträge einen gelungenen Rahmen für den persönlichen und wissenschaftlichen Austausch

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geschaffen. Als Besonderheit kann dabei der von Dr. Anna Knaps (Referentin DFG-Geschäftsstelle) und Prof. Dr. Katrin Höffler (Leipzig/Sprecherin DFG-Fachkollegium Rechtswissenschaften) angebotene Workshop zum Thema „DFG-Drittmittel: eigene Stelle & Co.“ angeführt werden. Das Hauptaugenmerk galt hier den einzelnen Förderprogrammen in der Postdoc-Phase. Den Teilnehmer*innen wurden wertvolle Tipps zur Antragsstellung und interessante Einblicke in die Entscheidungsprozesse der DFG gegeben.

B. Eröffnungsveranstaltung

Die Eröffnungsveranstaltung fand im Senatssaal statt, der als Herzstück der HU Berlin bezeichnet werden kann. Im Rahmen der einleitenden Worte durch Prof. Dr. Philipp Dann (Prodekan für Forschung der juristischen Fakultät der HU Berlin) hob dieser neben der Themenbeschreibung („Strafrecht und Krise“ und eben nicht „Krise des Strafrechts“) insbesondere die innovativen Vortragsthemen hervor.

Als Keynotespeaker konnte Wolfgang Kaleck mit einem Vortrag „Zur dunkleren und helleren Seite des Strafrechts – In Zeiten multipler Krisen“ gewonnen werden, der sich als Rechtsanwalt und Gründer des ECCHR seit Jahrzehnten für die Durchsetzung der Menschenrechte einsetzt. Kaleck zeichnete ein von Ambivalenzen geprägtes Bild des Strafrechts. Auf der dunklen Seite führte sein Vortrag durch eine Kriminalisierung der Solidarität mit Palästina, über den Einsatz strafrechtlicher Mittel zur Bewältigung der Klimaproteste bis hin zur Pönalisierung von Fluchtverhalten in der Migrationskrise. Die hellere Seite erblickte Kaleck in den Forderungen nach der Kriminalisierung von Pushbacks, der Rolle des Strafrechts im Umgang mit Umwelt- und Klimazerstörungen sowie deren Bedeutung im Völkerrecht. Gerade die hellere Seite sei aber in erheblichem Maße selektiv, was sich insbesondere in der defizitären Durchsetzung völkerstrafrechtlicher Normen zeige (beschränkte Auswahl verfolgter Personen und aufgearbeiteter Konflikte). Diese Selektivität wirke sich destruktiv auf das Gesamtsystem des Völkerstrafrechts aus. Eine trennscharfe Unterteilung in hell und dunkel sei im Ergebnis daher nicht möglich – vielmehr gingen positive und negative Aspekte des Strafrechts stets Hand in Hand. Ziel müsse es sein, diese Ambivalenzen herauszuarbeiten, wenn auf das Mittel des Strafrechts zurückgegriffen werde. Kaleck schloss den Vortrag mit einem Appell an die (künftige)

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Strafrechtswissenschaft, sich primär als Strafrechtsbegrenzungswissenschaft zu verstehen.

In der sich anschließenden Diskussion wurde das Augenmerk auf das menschenrechtliche Paradigma gelegt und die Frage aufgeworfen, ob auch die Menschenrechte ambivalent seien, indem sie als Grund und Grenze einer Kriminalisierung fungieren könnten. In Bezug auf das Völkerstrafrecht wurde mitunter die Einbindung der Betroffenen in völkerstrafrechtlichen Prozessen diskutiert. Kaleck trat einer etwaigen Skepsis gegenüber der Nebenklage entschieden entgegen. Er bekräftigte seine Ansicht, wonach das Strafrecht im Ausgangspunkt natürlich dunkel sei, insofern es Leid bei den Betroffenen verursache, aber es Bereiche gebe, in denen man ohne das Strafrecht – jedenfalls bis zur Entwicklung tauglicher Alternativen – nicht auskomme.

C. „Grundlagen: Zwischen Intervention und Transformation“

Den Auftakt des zweiten Tagungstages bildete ein Panel zu „Grundlagen: Zwischen Intervention und Transformation“ unter der Moderation von Dr. Jara Streuer (Münster).

I. „Reaktives Strafrecht als Mittel der Krisenintervention“ von Dr. Hannah Ofterdinger (Hamburg)

Dr. Hannah Ofterdinger nahm in ihrem Vortrag zunächst den Begriff der Krise näher unter die Lupe. Als Mittel der Krisenbewältigung komme auch ein „reaktives Strafrecht“ im Sinne einer strafrechtlichen Ad-hoc-Gesetzgebung in Betracht (Krisenstrafrecht). Ein solches sei dadurch charakterisiert, dass nicht ausreichend Zeit für eine Reform im Sinne einer umfassenden Neubewertung und -gestaltung zur Verfügung stehe, sondern punktuelle Änderungen spezifischer Problemstellungen im Vordergrund stünden. Ofterdinger rekurrierte auf zwei kriminalpolitische Reaktionen der jüngeren Vergangenheit: Zum einen die Anpassung der Urkundendelikte (Corona-Krise), zum anderen die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Migrationskrise). In der Folge führte Ofterdinger die Unterscheidung zwischen echtem und vermeintlichem Krisenstrafrecht ein. Der ersten Kategorie ordnete sie die Änderung der §§ 277, 279 StGB zu, da der Gesetzgeber hiermit das Ziel verfolgt habe, die von der Corona-Pandemie bedrohten Rechtgüter Leib und Leben zu schüt-

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zen. Die Einführung des neuen Straftatbestandes aus § 184j StGB unterfalle hingegen der zweiten Kategorie. Die sog. Migrations- oder Flüchtlingskrise sei in Wahrheit eine Krise der Unterbringung und Integration. Im Hinblick darauf leiste die Strafvorschrift aber keinen Beitrag, sondern stelle lediglich eine Reaktion auf ein durch medialen Druck befeuertes Bedrohungsgefühl der Bevölkerung dar. Daher könne die Vorschrift mangels effektiven Rechtsgüterschutzes dem symbolischen Strafrecht zugeschrieben werden. Ofterdinger schloss den Vortrag mit dem Resümee, dass das Strafrecht nicht zur vermeintlichen Bewältigung von Krisen vorgeschoben werden dürfe.

Im Rahmen der sich anschließenden Diskussion wurde hinterfragt, ob das Phänomen des „reaktiven Strafrechts“ nicht treffender durch die Bezeichnung eines „reaktiven Strafgesetzes bzw. Strafgesetzgebers“ erfasst werden könne. Zudem wurde thematisiert, inwieweit das von Ofterdinger eingeführte Begriffspaar echtes und vermeintliches Krisenstrafrecht Rückschlüsse auf ein legitimes oder illegitimes Strafrecht zuließe.

II. „Sozialnormative Kriminalpolitik“ von Florian Rebmann und Simon Schlicksupp (Tübingen)

Im zweiten Vortrag des Panels zu den Grundlagen präsentierte Florian Rebmann einen mit Simon Schlicksupp ausgearbeiteten Vortrag, dem Überlegungen zu einer neuen Strömung in der Kriminalpolitik zugrunde lagen, die das Strafrecht zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse nutzen möchte. Zunächst ordnete Rebmann die neueren Tendenzen in der Kriminalpolitik in ihren ideengeschichtlichen Hintergrund ein, ausgehend von der Theorie der positiven Generalprävention. Durch die Strafe sollte die Normgeltung verstärkt werden und somit als Stütze bestimmter sozialnormativer Strukturen dienen. In den 70er-Jahren kam es zu einem Paradigmenwechsel: Beruhend auf der Annahme, dass es sich bei Kriminalität um einen Prozess der gesellschaftlichen Zuschreibung handle, widmete sich die Kriminologie vornehmlich der Frage, warum bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden. Der Fokus richtete sich dabei insbesondere auf die überproportionale Erfassung marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Dies kulminierte in Forderungen, das Strafrecht als Herrschaftsinstrument von privilegierten Gruppen abzuschaffen bzw. einzuschränken, da das Strafrechtssystem – trotz

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normativ geforderter Gleichheit – realiter zu einer historisch gewachsenen Ungleichheit beitrage, mithin sozialnormreproduzierend wirke. Nach neueren kriminalpolitischen Strömungen soll das Strafrecht dazu eingesetzt werden, aktiv eine Veränderung der Verhältnisse hin zu einer nachhaltigen, pluralen und geschlechtergerechten Gesellschaft voranzutreiben. Durch die Setzung von Strafrechtsnormen könnten gesellschaftliche Wertvorstellungen transformiert werden (sog. sozialnormtransformative Kriminalpolitik). Schließlich erläuterte Rebmann die epistemischen Grundannahmen für die Erwartungen an eine solche Strafrechtskonzeption.

In der Diskussion wurde das „social engineering“ als Aufgabe des Strafrechts kritisch gewürdigt. Zudem wurde eine sozialnormtransformative Kriminalpolitik vor dem Hintergrund bezweifelt, dass sich bei Erlass der Strafnorm eine bestimmte gesellschaftliche Überzeugung bereits gebildet habe und ihr daher keine transformative, sondern bloße affirmative Kraft zukäme. Schließlich wurde die Eignung des Strafrechts als Mittel des Staates zur Kommunikation mit seinen Bürgern in einer modernen und informierten Gesellschaft in grundlegender Hinsicht in Frage gestellt.

D. „Strafrecht in der Klimakrise“

An die Behandlung der Grundlagen des Krisenstrafrechts schloss sich das Panel „Strafrecht in der Klimakrise“ unter der Moderation von Tobias Gafus (Doktorand an der Freien Universität Berlin und Rechtsanwalt bei Redeker Sellner Dahs) an.

I. „Strafrechtliche Rechtsanwendung und Gesetzgebung in Zeiten des Klimawandels“ von Dr. Nina Schrott (München)

Den Auftakt machte Dr. Nina Schrott, die zunächst feststellte, dass im deutschen Strafrecht keine unmittelbar klimaschützende Norm existiere. Strafrechtliche Bedeutung erlange der Klimaschutz nur über mittelbar klimaschützende Normen; Klimafolgeschäden ließen sich u. a. über die Körperverletzungs- und Tötungsdelikte erfassen. Sodann lenkte Schrott den Blick auf die künftige Ausgestaltung des Klimastrafrechts. Dem Strafgesetzgeber stünde insoweit eine Vielzahl an Handlungsmöglichkeiten offen – von der Schaffung neuer Straftatbestände bis hin zur Entkriminalisierung klimaschützender Verhaltensweisen. Dabei dürften

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aber nicht die Grenzen und Gefahren der Strafgesetzgebung außer Acht gelassen werden. Die Rechtsanwendung habe sich bisher im Hinblick auf die Berücksichtigung des Klimaschutzes weitgehend als zahnloser Tiger erwiesen. Schrott warf daher die Frage auf, ob die verfassungskonforme bzw. -orientierte Auslegung (Staatszielbestimmung des Art. 20a GG) einen methodischen Ausweg aus der strafrechtlichen Klimakrise darstellen könnte. Eine solche verfassungskonforme Auslegung (verstanden in einem weiten Sinne) sei allerdings nur innerhalb der methodischen Grenzen möglich, die in äußere (Wortlaut, Wille des Gesetzgebers, Gewaltenteilung) und innere (Wertungsoffenheit der Norm) unterteilt werden könnten. Anhand dieser Vorgaben analysierte Schrott die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung i. w. S. hinsichtlich zweier Phänomene: Sitzblockaden durch Klimaaktivist*innen und das „Containern“. Bezüglich ersteren sah Schrott eine Berücksichtigung der Belange des Klimaschutzes im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung des § 240 StGB aufgrund der Wertungsoffenheit des Kriteriums als methodisch möglich und geboten an, welche aber nicht stets eine Rechtfertigung der Tat zur Folge haben müsse. Im Hinblick auf die Strafbarkeit des „Containerns“ gelangte Schrott zu einem divergierenden Ergebnis: Die Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Belange über den Eigentumsbegriff sei hier wegen des „Primats des einfachen Rechts“ unzulässig, da der Gesetzgeber den Interessenkonflikt in den Regeln über die Aufgabe des Eigentums sowie insbesondere durch die §§ 903 ff. BGB abschließend gelöst habe. In Anbetracht der dargestellten Handlungsoptionen für Gesetzgeber und Rechtsanwender*innen kam Schrott zu dem Fazit, dass eine Zukunftssicherung im Wege des Strafrechts schon zum heutigen Zeitpunkt keine Utopie mehr darstelle.

Die Diskussion griff zunächst die Qualifikation von Sitzblockaden als Gewalt nach der sog. „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ auf. Diese sorgte gerade aus österreichischer Perspektive für Verwunderung, weil die dortige strafrechtliche Praxis passiven Widerstand einhellig nicht als Gewalt qualifiziere. Darüber hinaus wurde die Frage aufgeworfen, ob einer verfassungskonformen Auslegung auch eine strafrechtserweiternde Wirkung zukommen und somit ein Mindestmaß an Klimaschutz gewährleisten könne.

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II. „Nahrungsmittelkrise in der Klimakrise: Strafrechtliche Handlungsoptionen gegen die Verschwendung von Lebensmitteln“ von Dr. Jennifer Grafe (Bochum)

Dr. Jennifer Grafe befasste sich in ihrem Vortrag mit den strafrechtlichen Handlungsoptionen in der Nahrungsmittelkrise als Unterform der Klimakrise. Grafe beschrieb zunächst die Dimensionen der Lebensmittelverschwendung anhand verschiedener Statistiken. Diese bedinge einen Mehrbedarf, dessen Befriedigung eine Inanspruchnahme von Ressourcen erforderlich mache, die künftig nicht mehr zur Verfügung stünden. Prognostisch werde es daher auch in Deutschland zu einer Lebensmittelknappheit kommen. Im Hinblick auf die strafrechtlichen Handlungsoptionen gegen die Verschwendung von Lebensmitteln ging Grafe zunächst auf das „Containern“ ein. Nach Streichung der Privilegierung des Mundraubs in § 370 Nr. 5 StGB a. F. werde die Zueignung von Lebensmitteln nun indifferent als Diebstahl verfolgt, wobei Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch als Begleittaten in Betracht kämen. Nachdem das BVerfG den strafrechtlichen Schutz entsorgter Lebensmittel gebilligt habe, komme eine Rechtfertigung des „Containerns“ nur in akuten Notsituationen in Betracht. Grafe richtete daher den Blick auf mögliche Reformen. Der Gesetzesvorschlag (BT-Drucks. 20/4421), die Möglichkeit des Absehens von der Verfolgung zu normieren, wenn sich die Tat auf den Diebstahl bestimmter Lebensmittel bezieht, wurde (unter Verweis auf konstruktive Mängel und den symbolischen Charakter mit geringer Wirksamkeit) als unzureichend verworfen. Grafe richtete daher den Blick auf alternative Regelungskonzepte wie das in Frankreich existente Verbot des Wegwerfens verzehrbarer Lebensmittel oder steuerliche Anreize, wie sie etwa Italien mit der Möglichkeit der Spende von verzehrbaren Lebensmitteln bereithält. Allerdings sei fraglich, ob diese Maßnahmen der Bedeutung des Themas auch in zukünftigen Konfliktlagen ausreichend Rechnung tragen würden. Unter dem Topos „Utopien und Dystopien – Ein Blick in die Zukunft“ diskutierte Grafe daher, ob der Verschwendung von Lebensmitteln nicht durch die Normierung eines entsprechenden Straftatbestandes effektiv entgegengetreten werden könne. Vorgestellt wurden dabei verschiedene Möglichkeiten der Ausgestaltung eines solchen Tatbestandes, ausgehend von der umfassenden Kriminalisierung des Entsorgens von zum Verzehr durch einen Menschen geeigneten Lebensmitteln bis hin zur Beschränkung auf die Entsorgung nicht geringer Mengen von Lebensmitteln.

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Die anschließende Diskussion griff den Vorschlag der Schaffung eines neuen Tatbestandes auf. Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass es eine Bestrafung der Supermarktmitarbeiter*innen nach Möglichkeit zu vermeiden gelte (Ausgestaltung als „leadership crime“). Insgesamt wurde die Einführung einer neuen Strafvorschrift auch unter Verweis auf außerstrafrechtliche Alternativen (z.B. ökonomische Anreize zur Preisbildung) kritisch betrachtet, woraufhin Grafe das Gedankenspiel mit ihrer Zeichnung einer Dystopie verteidigte.

III.  „Zur Rechtfertigungsmöglichkeit von Sitzblockaden durch Klimakleber“ von Tjarda Tiedeken (Frankfurt a.M.)

Den Abschluss des Panels bildete der Vortrag von Tjarda Tiedeken, die zunächst in ihre Arbeitsdefinition des zivilen Ungehorsams einführte. Dieser zeichne sich insbesondere durch die Überschreitung geltenden Rechts aus und sei Mittel zur Überzeugung der Allgemeinheit von einer Minderheitsmeinung. In Bezug auf die Sitzblockaden der Klimakleber arbeitete Tiedeken heraus, dass diese nicht dem „typischen“ zivilen Ungehorsam unterfielen, weswegen die Möglichkeit einer Rechtfertigung neu überdacht werden müsse. Dieser stelle zunächst kein Mittel zur Überzeugung von einer Minderheitsmeinung dar. Denn durch die Umsetzung des Pariser-Klimaschutzabkommens sei die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels verbindlich gesellschaftlich festgeschrieben und somit ein rechtlich verpflichtendes Ziel. Auch könne den Sitzblockaden nicht entgegengehalten werden, dass sie das staatliche Gewaltmonopol unterlaufen würden. Vom hieraus folgenden Vorrang staatlicher Gefahrenabwehr seien gewisse Ausnahmen anerkannt, unter anderem bei Vorliegen eines systematischen legislatorischen Versagens. Im Hinblick auf die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels sei ein solches Versagen in Form der Verletzung von Schutzpflichten zugunsten zukünftiger Generationen denkbar, aber bisher nicht gerichtlich festgestellt. Tiedeken machte sich daher für die Anerkennung einer weiteren Ausnahme vom Vorrang staatlicher Gefahrenabwehr in Fällen stark, in denen der Staat zur Durchsetzung eigener Verpflichtungen angehalten werden soll. Ein solcher Fall liege vor, soweit die Sitzblockaden darauf abzielten, den Gesetzgeber zur Erhaltung der demokratischen Gleichheit durch intertemporale Freiheitssicherung zu motivieren. Ob daraus folge, dass Sitzblockaden als gerechtfertigt anzusehen seien, ließ Tiedeken offen. Die eigentliche Problematik liege darin,

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dass klimaaktivistische Sitzblockaden nicht der klassischen Verbrechenslogik entsprächen. Denn § 34 StGB ermögliche nur Einzelfallbetrachtungen, während die Klimaprotestaktionen auch in ihrem gesamtgesellschaftlichen Kontext erschlossen und beurteilt werden müssten.

Im Rahmen der Diskussion wurde die These, die Sitzblockaden verstießen nicht gegen die Mehrheitsregel, vor dem Hintergrund hinterfragt, dass selbige in der Regel mit Forderungen verbunden seien (z. B. Tempolimit auf Autobahnen), über die kein gesellschaftlicher Konsens oder eine rechtliche Festlegung bestehe. Zum Abschluss der Diskussion wurde erneut die Konstruktion der sog. „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ kritisiert und hinterfragt, inwiefern nicht ein reiner Ungehorsam und damit kein strafwürdiges Unrecht vorliege.

E. „Grenzen des Strafrechts in der Krise: Migration & Pandemie“

Den Abschluss des zweiten Tagungstages bildete ein Panel zu den „Grenzen des Strafrechts in der Krise: Migration & Pandemie“, welches von Lukas Huthmann (HU Berlin) moderiert wurde.

I. „Grenzerfahrungen: Zwischen Zufluchtsort und Pushback“ von Franziska Gruber (Marburg)

Franziska Gruber prägte in ihrem Vortrag zunächst das Verständnis von Krise als Situation, die Entscheidungsräume eröffne, die es auszufüllen gelte. Wie diese Ausfüllung erfolge, definiere die jeweilige Gesellschaft, was speziell für das Strafrecht gelte. In der sog. Migrationskrise sei es zu einer zunehmenden Verrechtlichung des Ausländerrechts und zu einem vermehrten Einsatz strafrechtlicher Normen gekommen. Zur Verdeutlichung verwies Gruber auf den Fall der Aufnahme einer Ausbildung nach rechtskräftiger Ablehnung eines Asylantrages. Der Gesetzgeber reagierte hierauf mit der Einführung einer Ausbildungsduldung nach § 60c AufenthG, die ein dem Aufenthaltstitel vergleichbares Schutzniveau schaffe und eine Erwartungssicherung bewirke. Diese sei aber im gleichen Zuge mit einer Verstrafrechtlichung verbunden worden, indem ein Ausschlussgrund für die Erteilung einer solchen Ausbildungsduldung im Falle einer vorangegangenen Verurteilung zu einer Geldstrafe von mehr als 50 Tagessätzen normiert wurde. Gruber behandelte sodann die Frage, ob diese Folge im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung finden könnte. Im Anschluss wurde mit dem „Kirchenasyl“ ein weiteres

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Phänomen der Verstrafrechtlichung des Asylverfahrens in den Blick genommen. Dieses beschreibe die Inobhutnahme von abgelehnten Asybewerber*innen durch Kirchenangehörige bis zum Ablauf von Überstellungsfristen im sog. Dublin-Verfahren. Im Zuge der sog. Migrationskrise sei dieses Verhalten vermehrt als Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt strafrechtlich verfolgt, von den Gerichten bei divergierender Begründung aber als straflos beurteilt worden. Als letztes Phänomen, welches paradigmatisch für eine zunehmende Verstrafrechtlichung der Migration stehe, wurde die Seenotrettung beleuchtet. Neben der Reflexion verschiedener Gesetzesentwürfe in Deutschland, die auch die zivile Seenotrettung zu erfassen drohten, fiel der Blick auch auf die Lage in Italien. Dort weise die strafrechtliche Behandlung bemerkenswerte Ambivalenzen auf, da neben der Seenotrettung auch die Übergabe von Migrant*innen an die lybische Küstenwache strafrechtlich verfolgt wurde. Im Resümee des Vortrags stellte Gruber die erarbeiteten Beispiele in den größeren Rahmen des rechtlichen Umgangs mit Migrationsbewegungen. Dieser könne den/die Migrant*in in den Blick nehmen und durch die Schaffung eines angemessenen rechtlichen Rahmens eine Vermenschlichung in der Verrechtlichung bewirken. Den Gegenpol hierzu bilde eine Verstrafrechtlichung, die eine Migrationssteuerung durch Strafrecht anstrebe und die Debatte in selbiges verschiebe. Welchen der beiden Wege im Umgang mit Migration eine Gesellschaft beschreite, sei symptomatisch für ihren Zustand.

Das Spannungsfeld zwischen menschenrechtlichen Asylansprüchen und Migrationskontrolle prägte auch das Meinungsspektrum in der anschließenden Diskussion. Die Bedeutung der von Gruber aufgestellten Leitthese einer Vermenschlichung in der Verrechtlichung wurde auch von den Diskutant*innen positiv aufgegriffen und mit dem Verweis auf unterschiedliche Phänomene unterstrichen.

II. „Grenzen des Strafrechts in Zeiten der Pandemie – Eine schweizerische Perspektive“ von Dr. Linda Bläsi (Basel)

Abgerundet wurde der zweite Tagungstag durch den Vortrag von Dr. Linda Bläsi, in dem der Erlass von Strafvorschriften in Notverordnungen durch den Bundesrat (Exekutivorgan) in der Corona-Pandemie im Fokus stand. Diese stellten eine schweizerische Spezialität dar, da die Bundesverfassung (BV) selbst Verordnungsermächtigungen enthielte.

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Art. 185 III BV ermächtige als intrakonstitutionelles Notstandsrecht den Bundesrat zum Erlass von Verordnungen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnungen oder der inneren oder äußeren Sicherheit zu begegnen. Diese Notstandsverordnungen hätten sich in der Corona-Pandemie großer Beliebtheit erfreut, da der Gesetzgebungsprozess insoweit ohne direktdemokratische Elemente auskomme und daher deutlich schneller ablaufe. Diese Corona-Verordnungen enthielten auch Strafbestimmungen, die Verstöße gegen die zur Bekämpfung der Pandemie erlassenen Regeln unter Strafe stellten. Nach der kompakten Beschreibung der rechtlichen Rahmenbedingungen ging Bläsi auf die Vereinbarkeit einer solchen Verordnung mit höherrangigem Recht ein. Zunächst wurde die Vereinbarkeit mit dem Gesetzlichkeitsprinzip in Frage gestellt. Insbesonderedessen völkerrechtliche Zulässigkeit (Art. 7 EMRK) wurde von Bläsi skeptisch gesehen. Soweit der EGMR im Hinblick auf das common law auch ungeschriebenes Recht genügen lasse, müsse diese Vorgabe kontextualisiert werden und lasse daher nicht den Schluss zu, dass strafbewehrte Verordnungen zulässig seien. Daneben bestünden erhebliche Zweifel, ob die Straftatbestände bestimmt genug seien. Nicht nur handle es sich um Blanketttatbestände, die auf verwaltungsrechtliche Vorgaben verwiesen, sondern auch um ein in höchstem Maße dynamisches Rechtsgebiet, in dem auf das sich stetig ändernde Infektionsgeschehen mit dem Erlass neuer Verordnungen reagiert wurde. Schließlich stellte Bläsi in Frage, ob der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage erfüllt gewesen sei. Insoweit müsse geprüft werden, ob der Straftatbestand auch zum Zeitpunkt des in Frage stehenden Verhaltens noch erforderlich war. Bläsi beendete den Vortrag mit dem Appell, die strafrechtlichen Grenzen auch in Krisenzeiten nicht über Bord zu werfen.

In der Diskussion wurde die Frage aufgegriffen, ob die Prüfung der Erforderlichkeit – im Hinblick auf mögliche Rückschaufehler – tatsächlich auf die Gerichte verlagert werden könne. Bläsi befürwortete diese erhöhte Prüfungsdichte mit dem Verweis auf die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz. Auch der Umgang mit der Corona-Pandemie in Deutschland wurde unter dem Gesichtspunkt der individualschützenden sowie kompetenzwahrenden Dimension des Gesetzlichkeitsprinzips kritisch gewürdigt. Der von Bläsi aufgestellte Appell, dass die rechts-

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staatlichen Grenzen auch und insbesondere bei potenziell noch gefährlicheren Viren unbedingt beachtet werden müssen, fand einhellige Zustimmung.

F. „Krise und Strafrechtskritik“

Der dritte und finale Tagungstag widmete sich unter der Moderation von Jessica Krüger (Bucerius Law School Hamburg) dem Thema „Krise und Strafrechtskritik“.

I. „Die Gegenwärtigkeit der Notwehr und die Wut, die bleibt: Partnerschaftsgewalt, die ‚familiäre Sphäre‘ und eine feministische Kritik des Notwehrrechts“ von Laura Midey (Universität zu Köln)

Laura Midey äußerte in ihrem Vortrag Kritik an der aktuellen Handhabung der sog. Haustyrannen-Fälle. Diese spreche einem großen Teil der Bevölkerung faktisch das Recht zur Selbstverteidigung ab, indem es sie auf staatliche Unterstützung verweise. Midey wandte ihren Blick daher auf neue Lösungsansätze zur Behandlung von Verteidigungshandlungen der Opfer von Partnerschaftsgewalt außerhalb extremer Ausnahmesituationen, in denen das Gegenwärtigkeitserfordernis aus § 32 StGB typischerweise verneint wird. Insoweit richtete sich ihr Augenmerk auf die Potenziale des Tatbestands der Nachstellung in § 238 StGB. Dieser erfasse in Abs. 1 Nr. 8 StGB auch vergleichbare Handlungen, soweit deren wiederholte Vornahme geeignet ist, die Lebensgestaltung in nicht nur unerheblicher Weise zu beeinträchtigen. Midey diskutierte, ob Partnerschaftsgewalt als vergleichbare Handlung in diesem Sinne angesehen werden könnte. Hieran anknüpfend wurden Fragestellungen behandelt, die sich bei einer Qualifikation der Partnerschaftsgewalt als Nachstellung für die Rechtfertigung ergeben würden. Zwar sei § 238 StGB kein Dauerdelikt, aufgrund des Erfordernisses der wiederholten Begehungen bestünde aber eine Wesensverwandtheit. Daher ging Midey auf den aus der Fallgruppe der „Chantage“ bekannten Vorwurf ein, die Gewährung eines Notwehrrechts würde das staatliche Gewaltmonopol unterlaufen und käme der Billigung von Selbstjustiz gleich. Da aber jede Form der Notwehr das staatliche Gewaltmonopol unterlaufe, könne dieses nicht pauschal herangezogen werden, um Notwehr gegen Dauerdelikte auszuschließen. Midey verortete die eigentliche Problematik darin, dass das

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Strafrecht stets nur „1 zu 1“-Situationen in den Blick nehme und der gesamtgesellschaftliche Kontext unberücksichtigt bliebe. Dieser sei aber zur sachgerechten Beurteilung der Verteidigungshandlung unerlässlich. Der infolge der Partnerschaftsgewalt dauerhafte Angstzustand sei als Angriff konstruierbar. Die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung ergebe sich insoweit aus der Notwendigkeit zur Herstellung und Aufrechterhaltung eines Zustandes im sozial-zwischenmenschlichen Kontext.

Im Anschluss wurde die Ausweitung der Überlegungen auf andere soziale Drucksituationen wie das Mobbing diskutiert. Der strafrechtliche Schutz von Frauen sei wichtig, dürfe aber bei den diskutierten Reformen (z. B. „Catcalling“) nicht die verfassungsrechtlichen Grenzen überschreiten. Schließlich wurde festgestellt, dass dem Strafrecht ein wichtiger Beitrag bei der Emanzipation der Frauen in der Gesellschaft zukommen könne.

 II. „Nachwuchs in der Krise? ‚Kriminelle‘ Kinder und Jugendliche“ von Pascale Fett (Marburg)

Zum Einstieg in ihren kriminologischen Vortrag verwies Pascale Fett auf die mediale Berichterstattung zum Kriminalitätsanstieg bei jungen Menschen, insbesondere im Bereich der Gewaltkriminalität. Der Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik stütze auf den ersten Blick diese Wahrnehmung: Im Zuge der Corona-Pandemie sei die Zahl der tatverdächtigen Kinder im Jahr 2022 im Vergleich zum vorangegangenen Jahr um 35,5 % gestiegen. Fett stellte anhand von Grafiken eindrücklich dar, dass dieser Anstieg in der erfassten Kriminalitätsbelastung junger Menschen eine Entwicklung konträr zum generellen Trend darstelle: In den letzten 20 Jahren sei die Anzahl der tatverdächtigen jungen Menschen im Hellfeld kontinuierlich zurückgegangen. Im Vergleich zu 2002 lasse sich ein Rückgang von über 30 % der statistisch erfassten tatverdächtigen jungen Menschen feststellen. Fett beschrieb im Anschluss das Phänomen der Jugendkriminalität. Die Jugend stelle als Phase der Entwicklung und des Übergangs in die Gesellschaft eine Form der Krise dar, die sich in delinquentem Verhalten äußere. Der Kontakt mit den Strafverfolgungsorganen verstärke diese Krise, sodass es teilweise zu einer zirkulären Verfestigung des delinquenten Verhaltens komme. Jugendkriminalität könne daher auch als eine Art Protest bzw. Auflehnung gegen staatliche Institutionen verstanden werden. Sie sei in der Regel bagatellhaft und entstehe

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oftmals spontan und aus einer bestimmten Gruppendynamik. Auch im Bereich der Gewaltkriminalität durch junge Menschen sei nach Berechnungen von Fett eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen wie bei der generellen Deliktsbelastung: Während diese im Laufe der letzten 20 Jahre kontinuierlich abnahm, konnte zum Ende der Corona-Pandemie hin wiederrum ein Anstieg der statistisch erfassten Jugendgewalt verzeichnet werden. Fett stellte diesen Anstieg in der statistisch erfassten Delinquenz von jungen Menschen in den Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Kinder und Jugendliche seien von den zur Pandemie-Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen in besonderem Maße betroffen gewesen. Zudem sei durch die deprivationsgeprägte Zeit das Bedürfnis entstanden, gewisse Erfahrungen nachzuholen, sodass sich die typischerweise am stärksten deliktsbelastete Phase bei bestimmten Altersgruppen zeitlich verlagerte und mit der anderer Alterskohorten zusammentraf. Der Anstieg der Gewaltkriminalität im Hellfeld könne darauf zurückgeführt werden, dass die Jugendlichen aufgrund der Beschränkung der sozialen Kontakte gewaltfreie Konfliktlösungen nicht erlernt haben. Zum Abschluss des Vortrags sprach sich Fett deutlich gegen die vorherrschenden Ausweitungs- und Verschärfungstendenzen aus. Das Strafrecht sei nichts für Kinder, auch nicht bei schwersten Taten.

Auch die anschließenden Diskussionsbeiträge waren von einem strafrechtsskeptischen Geist geprägt, was den Umgang mit der (zeitweise) höheren Kriminalitätsbelastung von Jugendlichen angehe. Der von der Corona-Pandemie ausgelösten Krise bei Kindern und Jugendlichen sei vornehmlich durch außerstrafrechtliche Bemühungen zu begegnen. Schließlich zeigten sich die Teilnehmer*innen beeindruckt von der von Fett aufgezeigten Möglichkeit des manipulativen Einsatzes von Statistiken.

III. „Trans- und posthumanistische Diskurse als Herausforderung für das Strafrecht“ von Felix Butz (Leipzig)

Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Felix Butz, in dem zunächst die transhumanistischen Diskurse und deren strafrechtliche Berührungspunkte aufgegriffen wurden. Der Transhumanismus befasse sich mit der Verschiebung der Grenzen menschlicher Entwicklung durch den Einsatz von Technologie und Pharmakologie (z. B. Maßnahmen zur Lebensverlängerung). Das Strafrecht werde regelmäßig eingesetzt, um

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den Einsatz dieser Techniken zu regulieren, was Butz durch den Fall des chinesischen Forschers He Jankui, der für die gentechnische Immunisierung zweier Mädchen gegen HIV zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, verdeutlichte. Butz stellte die Leistungsfähigkeit des Strafrechts im Hinblick auf die Regulierung des Einsatzes solcher Technologien in Frage. Anschließend wandte sich Butz dem Posthumanismus zu, der eine vollständige Überwindung des Humanen, quasi eine Maschinenwerdung des Menschen, beschreibe. In seiner kritischen Ausprägung stelle dieser die Ausrichtung des Rechts allein an den Belangen des Menschen in Frage, da dieser exklusive Blickwinkel die Belange der Umwelt vernachlässigt habe, und verbinde dies mit der Forderung, nicht-menschliche Subjekte anzuerkennen und ihnen Rechtspersönlichkeit zuzusprechen. Dadurch sollen die Verflechtungen von Menschen und anderen Organismen anerkannt und die Verhältnisse egalisiert werden. Hieran anknüpfend untersuchte Butz das Strafrecht auf posthumane Elemente. Dieses sei insofern posthuman, als es Rechtsgüter schütze, die über den Menschen hinausgehen. Beispielhaft hierfür sei die Berücksichtigung von nicht-menschlichen Rechtsgütern im Rahmen der Rechtfertigung oder ökozentrische Strafnormen im Nebenstrafrecht. Es fehle an einem Subjekt- oder Personenstatus für nicht-menschliche Andere, was Butz aber nicht als notwendig erachtet, weil Strafrecht auf Opferseite ein eher akteurloses Recht sei und nicht-menschliche Andere auch schützen könne, ohne ihnen Rechtspersönlichkeit einräumen zu müssen. Auf Täterseite stellten sich bei der Anerkennung posthumaner Subjekte weitaus größere Herausforderungen, da die hergebrachten Kategorien des Strafrechts, insbesondere das Schuldprinzip, grundlegend überdacht werden müssten.

Auch die letzte Diskussion der Tagung atmete überwiegend einen strafrechtskritischen Geist. Butz selbst verwies auf die kritischen Potenziale eines Posthumanismus und stellte eine Verbindung zum kritischen Strafrecht her. Auch Butz vertrat dabei den Standpunkt, dass selbst bei Anerkennung posthumaner Subjekte das Strafrecht nicht prima ratio sein dürfe. Hingewiesen wurde schließlich noch darauf, dass dem Posthumanismus außerhalb des auch von Butz eingenommen Standpunktes einer am präventiven Rechtsgüterschutz orientierten Aufgabe des Strafrechts eine weitaus größere Bedeutung zukommen könnte. Beispielsweise

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würde ein an den Schutz subjektiver Rechte anknüpfender Legitimationsansatz des Strafrechts eine Rechtssubjektivität posthumaner Subjekte stärker in den Fokus rücken.

G. Ausblick

Die Vorträge werden in einem Tagungsband veröffentlicht, der im Nomos-Verlag erscheinen und frei zugänglich sein wird. Dem Organisationskomitee gelang eine Zusammensetzung der Tagung, die es ermöglichte, die Finger in die Wunden eines Strafrechtssystems zu legen, das sich mit Krisensituationen in einer modernen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft konfrontiert sieht. Nicht zuletzt auch die aus den anregenden Diskussionen gewonnenen Erkenntnisse geben wertvolle Impulse für einen Diskurs, der selbst resilient sein muss. Denn nach der Krise ist vor der Krise. Selbes Muster gilt für das nächste und elfte Symposium des Jungen Strafrechts, das voraussichtlich 2025 in Freiburg stattfinden wird. Möge die gute und konstruktive Stimmung der Berliner Jubiläumstagung des Jungen Strafrechts den wissenschaftlich vorbildlichen Austausch der jungen Strafrechtswissenschaftler*innen ad multos annos prägen.


Die Autoren sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Ralf Kölbel an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Da es sich bei diesem Beitrag um einen Tagungsbericht handelt, wurde von einem Peer-Review-Verfahren abgesehen.