Kriminologie und Strafrechtswissenschaft: eine Subjekt-Objekt-Beziehung

Reference: NSW 2025, 43-57
DOI: 10.61039/29427509-2025-04

Nach verbreitetem Verständnis stellt die Kriminologie empirisches Wissen bereit, das die Strafrechtswissenschaft nach eigenen Relevanzkriterien (also selektiv) in die Bildung von Dogmatik eingehen lässt. Dem wird hier eine Perspektive gegenübergestellt, die diese Praxis (ebenso wie die generellen Funktionsbedingungen der Strafrechtswissenschaft) der kriminologischen Beobachtung unterzieht. Dies lässt Ergebnisse erwarten, die für das Verhältnis der Fächer wie für die Konstruktion von Kriminalität aufschlussreich sind.

A. Einführung

Die Kriminologie sieht sich regelmäßig mit Fragen nach ihrem disziplinären Status konfrontiert. Zum einen geschieht dies mit Blick auf ihr Verhältnis zu den (von ihr so genannten) Bezugsfächern (Soziologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften usw.), deren Konzepte und Methoden sie in der Regel rezipiert,[1] um diese „geborgten“ Wissenschaftsinstrumente dann jedoch selbstständig zu verknüpfen und zur Entwicklung eigener Fragestellungen und Theorien zu nutzen.[2] Zum anderen wird ihr originärer Forschungsgegenstand („Verbrechen“) nicht durch sie selbst, sondern durch externe staatliche und gesellschaftliche Prozesse

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definiert.[3] In dem Maße, in dem die Kriminologie die fraglichen Verläufe (also die politisch-legislative, justizielle usw. Strafrechtsherstellung) zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht, ist ihre Unabhängigkeit allerdings trotz der „Relativität“ von Strafrechtsnormen sichergestellt.[4]

Ungeachtet ihrer fachlichen Autonomie bleibt indes das Verhältnis der Kriminologie zur Strafrechtswissenschaft konkretisierungsbedürftig. Prinzipiell arbeiten beide Fächer zwar auf verschiedenen, erkenntnistheoretisch nicht unmittelbar kompatiblen Ebenen (Beobachtung des Realgeschehens vs. Deutung von Rechtsnormen).[5] Jedoch versteht sich ein erheblicher Teil der Kriminologie als eine angewandte Wissenschaft, die ihre Erkenntnisse zur Verwertung „in Projekten, Programmen, Institutionen sowie in Beratungen im Feld von Praxis und Politik“ anbieten[6] und somit auch eine empirisch informierte Strafrechtswissenschaft ermöglichen will.[7] Was die tatsächliche Befundverarbeitung betrifft, herrscht indes eher Ernüchterung vor.[8]

Dieser Eindruck ist jedoch nicht datengestützt und insofern überprüfungsbedürftig. Inwiefern er berechtigt ist, thematisiert am ehesten jene kriminologische Spielart, für die es ohnehin fraglich ist, dass das kriminologische Selbstverständnis (überhaupt oder jedenfalls primär) auf die Bereitstellung strafrechtlich nutzbaren Wissens gerichtet sein soll. Anders als der dies beanspruchenden „Mainstream“-Kriminologie kommt es diesem Teil des Faches nämlich (mindestens ebenso) auf die Beobachtung des Strafrechtssystems an. Bei einem solchen Selbstverständnis bildet auch die Strafrechtswissenschaft einen Untersuchungsgegen-

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stand, zu dem die Kriminologie eine analytische Subjekt-Objekt-Beziehung einnimmt.[9]

B. Strafrechtswissenschaft als Beobachtungsgegenstand

I. Die praxisstützende Funktion von Dogmatik bei der praktischen Normsinngebung

Der modernen, in der Tradition von Wittgenstein stehenden, Sprachtheorie zufolge ist die Bedeutung von Texten nicht schon in diesen „enthalten“ oder stets anhand fixer Sprachgebrauchsregeln erkennbar. Bestimmt wird sie vielmehr durch ihren kontextualen Gebrauch. Ihre Aussage besteht darin, was in der Verwendungssituation von den Beteiligten als ihr Sinn anerkannt wird. Der Gehalt von Normtexten ist daher nicht hermeneutisch zu erschließen, sondern erwächst prinzipiell erst aus den Semantisierungsprozessen der Normtext-„Anwendung“ – die indes, da die sozialen Diskurspraktiken im rahmengebenden institutionellen Kontext des Rechtssystems verlaufen und sich an offiziellen wie informell etablierten, professionellen Methodiken orientieren, keineswegs zufällig oder willkürlich enden, sondern vielmehr oft sehr ähnlich verlaufen und in der sich so bestätigenden Bedeutungsgebung den Eindruck von Sinnstabilität re-/produzieren können.[10]

Durch „das Gesetz“ wird dieser Vorgang aber stets nur insofern vorstrukturiert, als es auf Basis des konventionellen Sprachgebrauchs jene Inhaltsgebungen einsäumt, die mit sozialer Akzeptanz rechnen können. Was es am Ende konkret besagt, ergibt sich indes erst aus den zahllosen nach- und nebeneinander verlaufenden sozialen Prozessen, in denen der jeweils fallbezogene Normsinn hergestellt wird. Solche sinnkonstituierenden Praktiken hat die rechtssoziologische Forschung zumindest für den richterlichen Bereich mit vorwiegend ethnografischen Methoden inzwischen auch rekonstruiert.[11] Zu den habitualisierten Arbeitstechni­-

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ken, mit denen die Rechtsentscheidung unter den Bedingungen des Begründungszwangs hergestellt wird, zählt hiernach ganz wesentlich die Orientierung an eigenen Entscheidungslinien, obergerichtlichen Präjudikaten sowie – mit Abstrichen – an der Kommentar- und sonstigen rechtswissenschaftliche Literatur, die zum Typus des jeweiligen Falles vorhanden oder hierauf übertragbar ist.[12]

Genau dies entspricht auch den Absichten und Funktionen der Jurisprudenz: Wenn Rechtswissenschaft den Rechtsstoff sichtet und ihn (über Prinzipien, Systematiken und Begriffe) strukturiert, wenn sie die möglichen und vorhandenen Lesarten von Normtexten ordnet sowie argumentativ jene Präferenzgründe entwickelt, die die Vorzugswürdigkeit bestimmter Normkonkretisierungen (gegenüber anderen Normsinngebungen) plausibilisiert,[13] zielt dies stets darauf, dass die Produkte dieser Arbeitsform („Dogmatik“) gelesen, berücksichtigt und zitiert werden. Und dies soll gerade auch in richterlichen Entscheidungsbegründungen erfolgen, in denen der Verweis auf „passende“ rechtswissenschaftlich generierte Normsinn-Vorschläge wiederum dazu dient, die jeweils erfolgte justizielle „Semantisierung“, zu stützen und zu autorisieren.[14] Auf diese Weise versucht die Rechtswissenschaft „sich einen Anteil an der Rechtserzeugung zu sichern“.[15] Denn sie wird so zu einem Teil jener sozialen Herstellungsvorgänge, aus denen die fallbezogene Entscheidung ebenso wie letztlich auch die Bedeutung von Gesetzen erwächst.

II. Strafrechtswissenschaft als Akteur der Strafrechtsherstellung

Wie bei den anderen Beteiligten an diesem Prozess vollzieht sich in der Rechtswissenschaft eine soziale Praxis, die samt den Bedingungen, von

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denen sie beeinflusst wird, und den Folgen, die sie (etwa für die justiziellen Handhabungen) hat, der empirischen Untersuchung bedürftig[16] und prinzipiell auch zugänglich ist.[17] Speziell mit Blick auf die Strafrechtswissenschaft besteht daran sogar ein gesteigertes kriminologisches Forschungsinteresse, und dies besonders dezidiert in den etikettierungstheoretischen Fraktionen des Fachs. Auch aus dieser Warte ergibt sich der Normsinn – hier bspw.: die Bewertung eines Verhaltens als „Verbrechen“ – aus einer Kette strafbarkeitsdefinierender Prozesse, beginnend mit der Mobilisierung und Umsetzung straflegislatorischer Akte („primary criminalization“) bis zur lokalen ereignisbezogenen Zuordnung eines Falles zum Strafgesetz („secondary criminalization“), wobei jede dieser Labeling-Etappen kontingent ist. Deshalb bedarf es der Untersuchung, welche Akteure welche Stufe aufgrund welcher Bedingungen beeinflussen und zu welchen Definitionen zu Lasten welcher Gruppen dies führt.[18]

Das gilt auch für die Strafrechtswissenschaft, die in der oben (B.I.) erwähnten Weise an der generalisierten Strafnormkonkretisierung beteiligt ist und falltypologische Strafbarkeitsaussagen erzeugt. Sie stellt Referenztexte mit Strafnormsinn-Vorschlägen her, die an die Akte der „primary criminalization“ anknüpfen und es den Strafgerichten erlauben, sich hierauf bei ihren Entscheidungen zur „secondary criminalization“[19] zu stützen. Wenn diese vor Ort über die Einzelfalleinordnung zu befinden haben, kann der regelmäßig bestehende Deutungskonflikt von ihnen so in „dogmatisch begründeter“ Weise (und nicht nur auf Basis institutioneller Deutungsmacht) entschieden werden.[20] Strafrechtswissenschaft liefert der strafgerichtlichen Praxis also Begründungsbausteine für eine

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ereignisbezogene Strafbarkeitseinordnung, die als „juristisch legitim“ darstellbar ist. Sie ist damit – wenngleich nur verdeckt (weil ohne Entscheidungsbefugnis und -zwang) – auf Machtausübung gerichtet und amtiert in einer nicht zu vernachlässigenden Position an der Strafverfolgungswirklichkeit mit.[21] Für die Konkretisierung strafprozessualer Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten gilt das entsprechend.

III. Fragestellungen bei der kriminologischen Beobachtung der Strafrechtswissenschaft

Werden diese Anteile der Strafrechtswissenschaft an der Straf- und Strafprozessrechtsherstellung aus einer kriminologischen Außenperspektive analysiert, vollzieht sich eine Beobachtung zweiter Ordnung.[22] Daraus ergeben sich keine Aussagen dazu, ob die Operationen der Strafrechtswissenschaft „richtig“ oder „akzeptabel“ sind. Vielmehr erfasst die Kriminologie „nur“, wie diese Operationen verlaufen, wie es zu ihnen kommt und was durch sie ausgelöst wird.[23] Dies kann (auch längs- und querschnittlich vergleichend) für die verschiedenen Ebenen der Strafrechtswissenschaft geschehen (für die gesamte Community des Faches, einzelne Akteure, bestimmte Akteursgruppen), und zwar für das „gesamte“ Strafrecht oder Teilgebiete (etwa: nur Besonderer Teil, nur Wirtschaftsstrafrecht). Dabei drängen sich jeweils drei Beobachtungsbereiche auf:

1. Inhaltliche Analyse der von der Strafrechtswissenschaft bei der Strafnormkonkretisierung entwickelten Positionen:

  • Behandelte Themenschwerpunkte und auftretende „Großdebatten“,[24]
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  • dabei entwickelte strafbarkeitseinschränkende oder ausweitende bzw. prozessrechtsbe- und entgrenzende Tendenzen (verglichen etwa mit den Positionen der Judikatur),
  • gesellschaftliche Interessen, die von den entwickelten Positionen profitieren (etwa „geschützt“/nicht „geschützt“ werden) und
  • gesellschafts- und kriminalpolitische Vorstellungen, die in den entwickelten Positionen (implizit) zum Tragen kommen.

2. Untersuchung der Folgen der (verschiedenen) vertretenen Positionen:

  • Nicht-/Einfluss auf Judikatur,
  • Rezeptionserfolge und -misserfolge (etwa Zitierungsquoten) oder
  • Herausbildung von sog. herrschenden und Mindermeinungen.

3. Identifizierung von Bedingungen, die in (möglichen) Zusammenhängen mit (verschiedenen) inhaltlichen Positionierungen stehen:[25]

  • Individuelle Faktoren der Normkonkretisierungsarbeit (Stereotypen und Heuristiken, Einstellungen,[26] Karrierewege, Spezialisierungen, Interessenschwerpunkte, Qualifikations- oder professorale Phase),[27]
  • Zugehörigkeit und Konkurrenz zu sog. „Schulen“, kollegialen Netzwerken und fachinternen „Kulturen“[28],
  • Nicht-/Vorhandensein von „Autoritäten“ und vorstrukturierenden Dogmatiken,[29]
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  • Entscheidungs- und Machtstrukturen auf dem Publikations- und Veranstaltungsmarkt,
  • materielle Anreize und Interessen (Nebentätigkeit, Gutachten[30]),
  • immaterielle Anreize und Interessen (Publikationsranking,[31] mediale Präsenz, sonstige Anerkennungsressourcen) sowie
  • institutionelle Gegebenheiten (Arbeitsbedingungen usw.)[32] und
  • Rahmenfaktoren (politische, wirtschaftliche und Kriminalitätsentwicklungen usw.[33]).

Je nach Fragestellung kann all dem über Surveys, qualitative Interviews und ethnografische Beobachtungen[34] nachgegangen werden, oft aber auch durch Untersuchung des dogmatischen Materials, sei es durch hermeneutische und inhaltsanalytische Textauswertung oder durch neuere Verfahren der Netzwerkforschung[35] und andere computergestützt-quantitative[36] oder auch algorithmen-basierte Textanalysen.[37]

C. Exemplarische Vertiefung

I. Strafrechtswissenschaftliche Methodik als Beobachtungsbeispiel

Die Strafrechtswissenschaft ist in gleicher Weise wie die Strafjustiz damit konfrontiert, dass es dem Straf- und Verfahrensgesetz als ihrem Arbeitsgegenstand an einer bindenden Vorgabequalität (bzw. einem

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feststehenden Sinngehalt) fehlt (oben B.I.).[38] Ebenso wie im gerichtlichen Feld fragt sich daher, welche in-/formellen Techniken und Verfahren bei der Produktion straf- und strafprozessrechtlicher Dogmatiken eingesetzt werden, insbesondere bei der Entwicklung von Normsinn-Vorschlägen. Die Arbeits-, Auslegungs- und Begründungsmethoden, die bei der Herstellung und Darstellung strafrechtsdogmatischer Positionierungen verwendet werden, bilden also einen weiteren, zu den eben erwähnten Forschungsfeldern (B.III.) hinzutretenden, empirisch-kriminologischen Beobachtungsbereich.[39] Für die hierzu gehörende Teilfrage, inwiefern die strafrechtswissenschaftlichen Methoden auch die Berücksichtigung und Verwertung kriminologischen Wissens einschließen – und inwieweit damit die oben (bei A.) erwähnten „mainstream“-kriminologischen Ambitionen eingelöst werden –, gilt dies erst recht. Zugleich sind die darauf gerichteten Beobachtungen für die Kriminologie aber von besonderem Belang, weil sie nicht nur die strafrechtswissenschaftlichen Vorgehensweisen betreffen, sondern darüber hinaus (und gleichsam rekursiv) einen Modus, in dem sie selbst in straf- und strafprozessrechtskonkretisierende Dogmatiken eingeht und Teil dieser spezifischen (verdeckten) Machtpraxis wird.

II. Kriminologische Eindrücke zur strafrechtswissenschaftlichen Empirieverarbeitung

In dieser Hinsicht ergeben sich für die kriminologische Beobachtung (abermals) mehrere Forschungsfragen: Wird die rechtsmethodische (über die Sachverhaltsfeststellung hinausgehende) Berücksichtigung empirisch-kriminologischer Befunde in der Strafrechtswissenschaft thematisiert, als notwendig erachtet und praktiziert? Wie und unter welchen Bedingungen kommt es bei der Entwicklung von dogmatischen Aussagen zur Rezeption von welchem Empirie-Wissen? Schlägt sich dies in strafbarkeitserweiternden oder -begrenzenden Positionierungen nieder? Welche Folgen zeigen sich in der Prozessnormauslegung? Auf all diese

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Fragen kann es ohne eine Erhebung, die sich zuverlässiger Methoden bedient, keine tragfähigen Antworten geben.[40]

Allerdings stößt bereits ein vorläufiger Blick in das Feld auf einen Grundlagendiskurs, der die „empirische Wende“ der Rechtswissenschaft[41] dezidiert diskutiert.[42] In der so beobachtbaren Debatte weist man einerseits darauf hin, dass ein Transfer sozialwissenschaftlicher Befunde in die rechtswissenschaftliche Sinngebungsarbeit auf der Hand zu liegen scheint: weil sich viele Rechtsnormen auf gesellschaftliche Lebensbereiche beziehen[43] und nur im Lichte des lebensbereichsbezogenen Wissens „lebensbereichsgerecht“ konkretisiert werden können[44] und weil viele teleologische sowie folgenorientierte Argumente kaum ohne Kenntnisse von (beabsichtigten und möglichen) lebensbereichsbezogenen Rechtswirkungen möglich sind.[45] Andererseits wird aber betont, dass sozialwissenschaftliche Aussagen kein Realitätsabbild darstellen, sondern notwendig vorläufig und lückenhaft sind sowie durch (oft verdeckte) Interessen und die jeweilige Konzeptions- oder Methodenwahl geprägt werden – also ihrerseits auch „nur“ eine Konstruktion verkörpern. Zwar seien die so entstehenden Befunde meist deutlich „fundierter“ und „substantiierter“ als die alltagstheoretische (oder juristische) Spekulation, doch ließen sie sich nur sinnvoll rezipieren, wenn dies im Bewusstsein um die Konstruktionsbedingungen außerjuridischen Wissens erfolgt – wobei der erfolgende rechtsmethodische Zugriff die rezipierten Befunde

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dann anhand des Normprogramms (also selektiv) eigenständig „lesen“, transformieren und so abermals (um-)konstruieren muss.[46]

Diese Diskussionen werden jedoch allein in der zivil- und öffentlich-rechtlichen Literatur geführt, während die neuere Strafrechtswissenschaft daran – anders als an den Vorgängerdebatten der 1970er und 1980er Jahre[47] – offenbar gar nicht teilzunehmen versucht.[48] Diese Zurückhaltung hat zwar nicht etwa zur Folge, dass überhaupt kein Empirie-Transfer in die Straf- und Strafprozessrechtsdogmatik stattfinden würde (vielmehr ist dies keineswegs selten der Fall[49]). Jedoch erfolgt er in Ob und Wie unstrukturiert. Es scheint vom Gutdünken der konkreten Person abzuhängen, wann und auf welche Weise sie bei entsprechenden Auslegungsfragen auf den empirischen Forschungsstand zurückgreift oder stattdessen mit ihren subjektiven Realitätsannahmen operiert. Eine eigenständige Methodisierung, bei der Kriterien für die Rezeption sozialwissenschaftlicher Befunde[50] sowie kontrollierte Verfahren für deren Integration in die rechtstextbasierte Normsinngebung entwickelt würden, bleibt in einem solchen Diskurs, der das Problem nicht reflektiert, weitgehend aus. Selbst vorhandene Methodenvorschläge werden dann nicht thematisiert.[51]

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III. Verwendung empirieersetzender Realitätsannahmen

1. Unzulänglichkeit der Datenlage

Die „ungeregelte Spontaneität“, mit der die rechtswissenschaftliche Berücksichtigung sozialwissenschaftlichen Wissens erfolgt (oder eben nicht), lässt breiten Raum für den Einsatz empirieersetzender Alltagstheorien.[52] Teilweise beruht dies auf einem Mangel an Alternativen. Dort, wo der Vorbehalt des Möglichen greift – also dort, wo heranziehungsfähiges wissenschaftliches Realitätswissen fehlt oder nicht hinreichend instruktiv (oder ungesichert) oder nicht greifbar ist –  wird der Rückgriff auf begründete Spekulationen von den Stimmen, die sich mit der Problematik befassen, deshalb auch anerkannt.[53] In solchen Fällen tritt in den strafrechtswissenschaftlichen Beiträgen deshalb zwangsläufig eine argumentative Mischung aus vorläufigen Befunden und subjektiven Realitätsannahmen auf – was sich etwa bei § 24 StGB mit Blick auf die „Opferschutztheorie“ und das Konzept der „Goldenen Brücke“[54] oder bei § 25 StGB hinsichtlich der Figur der „Organisationsherrschaft“[55] beobachten lässt.

2. Unzugänglichkeit des Feldes

Anders liegt es aber beispielsweise dort, wo unter Bezug auf die Idee der „positiven Generalprävention“ auf Reaktions- und Straferwartung der Bevölkerung verwiesen wird, um daraus ganz unterschiedliche dogmatische Konsequenzen abzuleiten[56] – etwa für die Legitimierung der Versuchsstrafbarkeit,[57] die begrenzte Zulässigkeit der Wahlfeststellung[58] oder die Frage, bei welcher Fehlvorstellung ein (vermeidbarer) Verbotsirrtum i.S.v. § 17 StGB[59] und bei welchem Jugenddelikt die für die

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Jugendstrafe erforderliche „Schwere der Schuld“ (§ 17 II Var. 2 JGG) anzunehmen ist.[60] Im Unterschied zu den davor genannten Dogmatiken (C.III.1.) erfolgt dies ohne jeden Bezug auf empirische Daten. An solchen Befunden besteht auch nicht einfach nur ein Mangel. Vielmehr sprechen methodologische Gründe gegen die Möglichkeit, den angesprochenen Realitätsausschnitt (nämlich die Bedingungen, unter denen ein Normgeltungsschaden eintritt und behoben wird) überhaupt in einer objektivierten Form erheben zu können.[61] Die empirieersetzend verwendeten Realannahmen sind hier also dauerhaft ohne jede Grundlage. Dementsprechend werden sie „zurechtbehauptet“, indem man eben jene Beschaffenheit von Straferwartungen unterstellt, die das jeweilige Begründungsanliegen stützt.

3. Ausgeblendete Befunde

Ein Beispiel für Fälle, in denen man dagegen durchaus vorhandenes empirisches Wissen geradezu ignoriert und „ohne Not“ durch spekulative Realannahmen substituiert, bietet die Dogmatik strafprozessualer Beweisverwertungsverbote (BVV). Diese sollen in ihrer unselbstständigen Variante (auch wenn Voraussetzungen, Reichweite und rechtliche Herleitung umstritten sind[62]) eine effektive Korrektur der rechtswidrigen Beweisentstehung erreichen (am deutlichsten, wo man im BVV ein Instrument der Folgenbeseitigung sieht[63]). Der Beschuldigte sei durch die Nichtverwertung prinzipiell so zu stellen, als wäre der Fehler gar nicht geschehen. Diese Ausgleichsleistung erbringe das BVV, indem es die richterliche Person zum Ignorieren gewusster Informationen bringt.

Die an sich naheliegende Frage, ob diese Funktionsweise auch auf realistischen Erwartungen beruht, wurde in der älteren Debatte bisweilen noch knapp thematisiert und (ohne nähere Begründung) unter Hinweis auf die richterliche Professionalität durchweg bejaht.[64] Von der neueren Literatur wird diese Annahme nunmehr jedoch ohne die geringste

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Problematisierung geteilt[65] – weshalb man das BVV sodann gegenüber anderen Fehlerkorrektur-Instrumenten priorisiert.[66] Einige in den USA durchgeführte Experimente zeigen indes, dass das Außerachtlassen einer „bemakelten“ Information oftmals nur erfolgt, wenn sie nebensächlich ist oder als unzuverlässig erscheint,[67] wobei sich Berufs- von Laienrichtern hierin offenbar kaum unterscheiden.[68] Dadurch wirkt die juristisch ausgeschlossene Information in die Würdigung der übrigen Beweismittel psychisch nicht selten unbemerkt ein. Indem die Strafrechtswissenschaft diese Befunde zu den tatsächlichen Grenzen der richterlichen Professionalität ignoriert, zementiert sie mit dem BVV also ein Instrument, das den Betroffenen eher Steine als Brot zu geben vermag.[69]

D. Schluss

Es ist an der Zeit, die Strafrechtswissenschaft als Gegenstand der kriminologischen Forschung zu begreifen, denn die hiervon zu erwartenden Befunde wären mehrfach instruktiv: Der Strafrechtswissenschaft würden die eigenen Funktionsweisen und -bedingungen vor Augen geführt und der Kriminologie klargemacht, inwiefern ihr Anspruch, zu einer (aus ihrer Warte) vernünftigen Strafrechtsdogmatik beizutragen, einlösbar ist. Soweit sich bestätigen würde, dass die strafrechtswissenschaftliche Rezeption kriminologischen Wissens eher „unsystematisch“ erfolgt, wäre damit zunächst einmal der ungleiche Anteil dokumentiert, den beide Disziplinen an der Herstellung des „lebenden Strafrechts“ und der Konstruktion von Kriminalität haben. Die beobachtbaren Implikationen der empirieersetzend-alltagstheoretischen Argumentation (V.III. 2. und 3.) gäben aber auch Anlass für eine Revitalisierung der methodologischen Debatte in der Strafrechtswissenschaft. Wie überfällig sie ist, wird

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nicht zuletzt daran erkennbar, wie lange sie schon angemahnt wird. Die „ganze Lehre vom Verbrechen“, heißt es bereits 1845 bei Franz Lieber, „ist eine haltlose, kömmt nicht die Lehre vom Verbrecher dazu; die Lehre vom Prinzip des Strafrechts ist eine ungedeihliche Speculation, reiht sich nicht die Lehre von der Bestrafung und der Psychologie des Verbrechers daran“.[70]


Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Kontakt: ralf.koelbel@jura.uni-muenchen.de.

[1] Vgl. etwa Savelsberg/Sampson, Crime, Law and Social Change 2002, 98, 102: Kriminologie habe keinen „core“, d.h. „no unique methodological commitment or paradigmatic theoretical framework“.

[2] Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 8. Aufl. 2024, § 1 Rn. 33; näher etwa Garland in Bosworth/Hoyle (Hrsg.), What is Criminology?, 2011, 298.

[3] „Where other, more fundamental disciplines have formed around a distinctive scientific object, specified and constituted by the science’s own theoretical and methodological practices, criminology addresses a pre-given object (crimes and criminals) which it derives from a non-scientific practice – namely, the criminalization processes of the criminal justice state.“ (Garland (Fn. 2), 303).

[4] Garland (Fn. 2), 306 f.

[5] Sessar in Boers (Hrsg.), Kriminologische Perspektiven, 2012, 11, 16 ff.

[6] Siehe Kerner MschrKrim 96 (2013), 184, 185.

[7] Dazu etwa Jehle in Loos/Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart, 2007, 179 ff.; Knauer NK 26 (2014), 162, 173 f.; wobei es diesem Teil des Faches noch stärker um eine legislatorische, politische und justizielle Verwertung ihrer Ergebnisse geht (kennzeichnend etwa Liebl in Lange (Hrsg.), Kriminalpolitik, 2008, 405 sowie die Beiträge in Walsh/ Pniewski/Kober/Armborst (Hrsg.), Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland, 2018, 187 ff., 387 ff.; rechtsgebietsübergreifend etwa Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, 137 ff.; Münkler, Expertokratie, 2020, 416 ff.). International werden die entsprechenden Ambitionen im Konzept der „Translational Criminology“ gebündelt (vgl. dazu Telep, in Welsh/Zane/Mears (Hrsg.), Evidence-based Crime and Justice Policy, 2024, 37).

[8] Stellvertretend etwa (allerdings eher mit Blick auf die legislatorische Kriminalpolitik) Kinzig KriPoZ 2020, 8 ff.; näher Eisenberg/Kölbel (Fn. 2), § 3 Rn. 16 ff. m.w.N.

[9] Eisenberg/Kölbel (Fn. 2), § 1 Rn. 32, § 20 Rn. 4; ähnlich Sessar (Fn. 5), 15: „ist Strafrecht für die Kriminologie (…) ein erkenntnisinteressantes Gegenüber, ein Gegenstand kriminologischer Beobachtung und Forschung“.

[10] Vgl. etwa Busse, Juristische Semantik, 2. Aufl. 2010, 101 ff.; zusammenfassend Wrase in Frick/Lembcke/Lhotta (Hrsg.), Politik und Recht, 2017, 63, 71 ff.; näher zu relevanten sprachwissenschaftlichen Konzeptionen und ihrer rechtstheoretischen Rezeption etwa Müller, Struktrierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994 , 375 ff.; Christensen/Kudlich ARSP 2002, 230; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 11. Aufl. 2013, Rn. 218 ff., 299 ff., 328 ff.

[11] Vgl. vor allem Stegmaier, Wissen, was Recht ist, 2009; im Grunde bereits Lautmann, Justiz – die stille Gewalt, 1972; näher Morlok/Kölbel/Launhardt Rechtstheorie 2000, 15; Morlok/Kölbel Zeitschrift für Rechtssoziologie 2000, 387; Morlok/Kölbel Rechtstheorie 2001, 289; ferner etwa Löschper, Bausteine für eine psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 1999, 82 ff.; zusammenfassend Wrase (Fn. 10), 66 ff.; Eisenberg/Kölbel (Fn. 2), 30 Rn. 7 ff., 34 ff.

[12] Näher dazu die Analysen bei Drosdeck, Die herrschende Meinung – Autorität als Rechtsquelle, 1989; Wittmann, Zitierpraxis von Verfassungsgerichten, 2024, 108 ff. sowie die Modellierung bei Schröter, Pfadabhängigkeit und Recht, 2024, 131 ff., 155 ff.; dazu, dass in vielen Rechtsordnungen (insbesondere bei einer Common-Law-Prägung) die in der Rechtspraxis genutzten Dogmatiken tendenziell noch stärker als in Deutschland durch Gerichte und noch weniger durch Rechtswissenschaft produziert werden, vgl. etwa Stark, Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik, 2020, 156 ff.

[13] Dazu, dass Rechtswissenschaft für ihre Normlesarten den Anspruch der Vorzugswürdigkeit, wenn nicht gar den der Richtigkeit erhebt, vgl. Sahm, Elemente der Dogmatik, 2019, 148 ff.; siehe auch Bumke, Rechtsdogmatik: Eine Disziplin und ihre Arbeitsweise, 2017, 82 ff.

[14] Sahm (Fn. 13), 21 ff. m.w.N.; Zum Ganzen näher und mit ähnlichen Akzenten etwa Bumke (Fn. 13), 48 ff.; zu weiteren Funktionen etwa auch Boulanger in ders./Rosenstock/Singelnstein (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung, 2019, 173, 183 ff.; Stark (Fn. 12), 115 ff.

[15] Lepsius in Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, 39, 44.

[16] Zur bisherigen Forschungslücke etwa Schröter (Fn. 12), 220 f.; zum Forschungsbedarf nachdrücklich Schulz-Schaeffer Zeitschrift für Rechtssoziologie 2004, 141; international ähnlich schon Cotterell Journal of Law and Society 1998, 171.

[17] Zu einer entsprechenden rechtssoziologischen Forschungsperspektive zuletzt Boulanger (Fn. 14), 180 ff.; ders. German Law Journal 2020, 1362, 1364 ff.; zur empirischen US-Forschung bzgl. der justiziell entwickelten „legal doctrines“ vgl. etwa Tiller/Cross 100 Nw. U. L. Rev. 517 (2006); Hall/Wright 96 Calif. L. Rev. 63 (2008); Allen 66 Case W. Res. L. Rev. 1 (2015-2016).

[18] Besonders interessiert hierbei die Selektivität der kriminalisierenden Definitionen, die sich auf typische Verhaltensmuster bestimmter gesellschaftlicher Gruppen konzentrieren (die Verhaltensmuster anderer Teilgruppen dagegen unberührt lassen) und zu einer dementsprechend selektiven Konfrontation mit in-/formellen Sanktionsfolgen und der davon geförderten Wahrscheinlichkeitssteigerung von sekundärer Devianz führen (vgl. etwa Smaus, Das Strafrecht und die gesellschaftliche Differenzierung, 1998, 113 ff., 169 ff.; Dellwing, Recht und Devianz als Interaktion, 2015, 93 ff.; Vegh Weis, Marxism and Criminology, 2017, 24 ff., 75 ff., 185 ff.).

[19] Dazu, dass die Gerichte hierbei als kriminalpolitische Akteure wirken, siehe etwa auch schon Schüler-Springorum, Kriminalpolitik für Menschen, 1991, 57 ff.

[20] Dellwing (Fn. 18), 31 ff.

[21] Noch sichtbarer wird dies, wo die Strafrechtswissenschaft rechtspolitische Aktivitäten entwickelt (hierzu Kölbel NK 2019, 249, 251 ff.); Kölbel/Kubiciel GA 2023, 181, 182 f.)

[22] Natürlich ist auch die Strafrechtswissenschaft nicht an solchen (selbstreflexiven) Analysen gehindert – sofern sie die besagte Beobachtungshaltung einnimmt, um die Beobachtungen erster Ordnung (ihre eigene dogmatische Tätigkeit) zu reflektieren (zu den dabei einzusetzenden Methoden sogleich). International ist dies im Kontext der „socio-legal studies“ durchaus üblich.

[23] Luhmann, Recht der Gesellschaft, 1993, 16 f., 70 f.; vgl. allgemein dazu auch Kieserling in de Berg/Schmidt (Hrsg.), Rezeption und Reflexion, 2000, 38 ff.

[24] In diese Richtung etwa die Rekonstruktion verschiedener Typen des staatsrechtswissenschaftlichen Staats- und Verfassungsdenkens bei Frick, Die Staatsrechtslehre im Streit um ihren Gegenstand, 2018, 77 ff., 151 ff.; zur dortigen Debattenlage vgl. auch Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2022, 295 ff., 432 ff.

[25] Soweit die international vergleichende Verfassungsrechtsforschung mit empirischen Mitteln operiert, hat sie hier einen Analyseschwerpunkt (vgl. den Überblick bei Petersen/Chatziathanasiou Archiv des öffentlichen Rechts 2019, 502, 525). Ebenso verhält es sich bei der (bei Fn. 11 angesprochenen) Richtersoziologie.

[26] Zu politischen Einstellungen in der Rechtswissenschaft und den Messschwierigkeiten vgl. Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, 1981, 165 ff., 241 ff.; zu einer jurisprudenziellen Praxis, in der das politisch „Gewollte als Ergebnis einer dogmatischen Deduktion präsentiert wird“, allgemein Lepsius (Fn. 15), 59.

[27] Für einzelne Beobachtungen dazu im öffentlichen Recht vgl. Schulze-Fielitz (Fn. 24), 145 ff.

[28] Cownie, Legal Academics: Culture and Identities, 2004 hat die “Fachkultur” für „die“ britische Rechtswissenschaft untersucht (dazu ansatzweise für Deutschland und die USA auch Klausa (Fn. 26), 127 ff.; vgl. auch den „Kulturvergleich“ zwischen verschiedenen Disziplinen bei Lamont, How Professors Think, 2010, 53 ff.), doch dürften sich innerhalb des Faches bei genauerem Hinsehen durchaus verschiedene Teil-„Kulturen“ zeigen.

[29] Dazu eingehend Schröter (Fn. 12), 230 ff.

[30] Dazu mit ersten Auswertungen Kölbel in FS Feltes, 2021, 123, 130 ff.

[31] Anders als international, wo es in den Rechtswissenschaften (wie in anderen Fächern) standardisierte Bewertungsverfahren gibt (zu den Wirkungen des Research Assessment Exercise in Großbritannien Cownie (Fn. 28), 135 ff.), bestehen hier vermutlich in Deutschland eher diffuse Effekte.

[32] Hier bestehen Überschneidungen mit der allgemeinen empirischen Hochschul- und Wissenschaftsforschung.

[33] Zu Zusammenhängen zwischen gesellschaftlichen Verläufen und der Entwicklung bereichsspezifischer Dogmatiken vgl. ansatzweise die Beiträge bei Steinberg/Koch/Popp (Hrsg.), Strafrecht in der alten Bundesrepublik 1949–1990. Grundlagen, Allgemeiner Teil (…), 2020 und Popp/Koch/Steinberg (Hrsg.), Strafrecht in der alten Bundesrepublik 1949–1990. Besonderer Teil, 2024.

[34] Vgl. Haschke in Bahmer/Barth/Franz u.a. (Hrsg.), Interaktionen: Internationalität, Intra- und Interdisziplinarität, 2024, 263; beispielgebend, wenn auch anhand der richterlichen Tätigkeit Stegmaier (Fn. 11), 123 ff.; vgl. auch Latour, Die Rechtsfabrik, 2016, 89 ff., 149 ff.

[35] Zu deren Grundlagen, Vorgehensweisen und Potenzialen näher Coupette, Juristische Netzwerkforschung, 2019, 74 ff.

[36] Zur Sprachgebrauchsmusteranalyse bei der Auswertung juristischer Texte etwa Felder/Luth/Vogel Zeitschrift für germanistische Linguistik 2016, 1.

[37] Vgl. etwa die Verfahren der Diskursmetrisierung bei Vogel in Leyhausen-Seibert/Menzel/Vogel (Hrsg.), Wissen in Rechts und Sprache, 2024, 223 und des Text Minings bei Wendel/Shadrova/Tischbirek German Law Journal 2022, 493; für einen knappen Gesamtüberblick zu möglichen Methoden siehe Boulanger (Fn. 16), 1373 ff. m.w.N.

[38] Näher etwa Sahm (Fn. 13), 82 ff.

[39] Bislang liegen hierzu in Deutschland allein einzelne Arbeiten zur Her- bzw. eher Darstellung von strafrechtlicher Dogmatik durch den BGH vor (vgl. Christensen/Kudlich, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, 23 ff., mit einer Auswertung der Nutzungshäufigkeit, -verteilung und -entwicklung verschiedener Argumentformen; speziell zum Wörterbuchgebrauch bei der grammatischen Auslegung die Auswertung bei Hamann in Vogel/Walter/Tripps (Hrsg.), Korpuslinguistik im Recht, 2022, 27, 33 ff.).

[40] Einzelne dieser Fragen werden – allerdings für die Sozialwissenschaftsrezeption im Völkerrecht – bei Steininger/Byrne/Oidtmann in Bahmer u.a. (Fn. 25), 221 (228 ff.) durch eine Zeitschriftenauswertung adressiert.

[41] Dazu und zum Folgenden stellvertretend die unter diesem Schlagwort geführte Debatte von Petersen Der Staat 2010, 435, 439 ff. und Augsberg Der Staat 2012, 117 oder auch die Beiträge von Röhl und v. Arnauld in VVDStRL 74 (2015), 7 ff. und 39 ff.

[42] Dazu grundsätzlich auch Stark (Fn. 12), 211 ff., 233 ff.; Bumke (Fn. 13), 157 ff.; vgl. speziell mit Bezug auf das Zivilrecht auch Eidenmüller JZ 1999, 53; Hamann, Evidenzbasierte Jurispudenz, 2014; Engert, Berliner Rechtszeitschrift 2022, 3 und Bartlitz/Eckert/Kurz u.a. (Hrsg.), Rechtstatsachen im Privatrecht, 2024. Besonders intensiv wird die Debatte seitens der verhaltensökonomisch orientierten Rechtswissenschaft geführt (stellvertretend Engel/Englerth/Lüdemann/Spiecker gen. Döhmann, Recht und Verhalten, 2007. Kennzeichnend sind auch die Beiträge eines R|E Online-Symposiums (dazu https://rechtsempirie.de/10.25527/re.2020.06/online-symposium-empirische-wende/ – Aufruf v. 7.10.2024) und (über den Bereich der Dogmatik hinausgehend) etwa auch bei Augsberg (Hrsg.), Extrajuridisches Wissen im Verwaltungsrecht, 2013; ders./Schuppert (Hrsg.), Wissen und Recht, 2022.

[43] Ähnlich etwa Walter/Neubacher, Jugendkriminalität, 4. Aufl. 2011, Rn. 327.

[44] Beispielsweise können die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und die Suizidbeihilfe strafrechtswissenschaftlich nicht zulänglich erörtert werden, ohne Realwissen zur „Verlässlichkeit“ selbstbezogene Todeswünsche, den zugrundeliegenden charakteristischen Konfliktlagen und deren Hintergründe zu berücksichtigen.

[45] Näher dazu auch Hoffmann-Riem Die Verwaltung 2016, 1, 3 ff.

[46] Speziell hierauf – also der rechtseigenen Rekonstruktion und folgensensiblen Verarbeitung von zuvor wahrgenommenen (!) sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen – konzentriert sich das Konzept der responsiven Rechtsdogmatik, das (im Anschluss an Gunter Teubner) im Zivilrechtsdiskurs etwa von Grünberg AcP 218 (2018), 213, 238 ff.; ders. AcP 219 (2019), 924, 928 ff. diskutiert wird.

[47] Vgl. etwa Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, 1972; Schünemann in FS für Bockelmann, 1976, 117, 120 ff.; Lüderssen/Sack (Hrsg.): Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht. Bd. I und II, 1980; Kreissl ZfResoz 1988, 272, 276 ff.; Baratta ZStW 1990, 107, 111 ff.

[48] Kennzeichnend hierfür ist die Nichterwähnung der Problematik in den größeren Kommentierungen zur straf- und strafprozessrechtswissenschaftlichen Methodik (vgl. etwa Schmitz, in Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1, 4. Aufl. 2020, § 1 Rn. 84 ff.; Kargl, in Nomos Kommentar zum StGB, 6. Aufl. 2023, § 1 Rn. 13 ff., 70 ff.; Kudlich, in Müchener Kommentar zur StPO, Bd. 1, 2. Aufl. 2023, Einleitung Rn. 577 ff.).

[49] Stellvertretend für viele andere Beispiele etwa Kasiske in Bock/Harrendorf/Ladiges (Hrsg.), Strafrecht als interdisziplinäre Wissenschaft, 2014, 75, 82 ff.; Duttge Rechtswissenschaft 2019, 53 ff.

[50] Vgl. etwa die Handreichungen für die Beurteilung und Nutzung sozialwissenschaftlicher Befunde im rechtlichen Kontext bei Hamann (Fn. 42), 106 ff., 137 ff.; zu Schwierigkeiten und Grenzen bei der Bildung „gesellschaftsadäquater Rechtsbegriffe“ aber bereits Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, 55 ff.; zu dessen Skepsis hinsichtlich „der Übertragung sozialwissenschaftlicher Analysen in die juristische Praxis“ auch ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 8.

[51] Am weitesten entwickelt ist in Deutschland sicher das Konzept der Normbereichsanalyse (dazu etwa Müller (Fn. 10), 184 ff., 250 ff., 323 ff.; Müller/Christensen (Fn. 10), Rn. 244 ff., 419 ff.; vgl. auch Möllers, Juristische Methodenlehre, 5. Aufl. 2023, 533 ff.), das in seinen Vorgaben allerdings recht allgemein bleibt (Hoffmann-Riem Die Verwaltung 2016, 1, 8 f.; siehe aber für eine mustergültige Umsetzung Hollerung in Bartlitz/Eckert/Kurz u.a. (Fn. 42), 209 ff.). In der Strafrechtswissenschaft wird der Ansatz höchst selten aufgegriffen (vgl. jedoch Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, 110 ff., 122 ff., 139 f.).

[52] Vgl. dazu auch das bei Ogorek in dies., Aufklärung über Justiz, 2008, 413, 425 ff. exemplarisch vorgestellte Anschauungsmaterial.

[53] Dazu etwa Hamann (Fn. 42), 32 ff.; Hoffmann-Riem Die Verwaltung 2016, 1, 12, 15 ff.

[54] Kennzeichnend die realitätsbezogenen Ausführungen hierzu etwa MüKo/StGB-Hoffmann-Holland, § 24 Rn. 23 f.

[55] Charakteristisch in diesem Zusammenhang etwa Hefendehl GA 2004, 574; Höffler GA 2023, 601 mit Bezugnahmen auf die eher vorläufige organisationssoziologische und -kriminologische Erkenntnislage.

[56] Hierzu programmatisch Kaspar in ders./Walter (Hrsg.), Strafen „im Namen des Volkes“?, 2019, 61, 76 ff.

[57] Dazu m.w.N. NK/StGB-Engländer, § 22 Rn. 18.

[58] Vgl. beispielsweise NK/StGB-Frister, § 1 Rn. 81.

[59] Vgl. etwa Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 19. Abschnitt Rn. 32 ff.; zur Problematik vgl. NK/StGB-Neumann, § 17 Rn. 5 f., 54.

[60] Ostendorf in Nomos Kommentar zum JGG, 11. Aufl. 2021, § 17 Rn. 7; Beulke NK 2019, 269, 279 f.; Kaspar JR 2024, 201, 204 f.

[61] Näher dazu Kölbel/Singelnstein NStZ 2020, 333.

[62] Überblick in MüKo/StPO-Kudlich, Einleitung Rn. 456 ff.; Jäger, in Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts. Band 8, § 53.

[63] Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozess, 1990, 38 ff.; ders., Prinzipien strafprozessualer Beweisverwertungsverbote, 2011, 21 ff., 100 ff.; ähnlich Ellerbrok/Hartmann ZStW 134 (2022), 708, 716 ff.

[64] Zu dieser Debatte m.w.N. Lindemann in Barton/Kölbel/Lindemann (Hrsg.), Wider die wildwüchsige Entwicklung des Ermittlungsverfahrens, 2015, 127, 128 ff.

[65] Vgl. Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, § 54 Rn. 907: „große psychische Leistung“, die „das deutsche Recht dem Richter (…) fraglos zutraut“. In der Regel wird die Problematik nicht einmal kurz angesprochen (kennzeichnend MüKo/StPO-Kudlich, Einleitung Rn. 449 ff.).

[66] Vgl. etwa Jäger (Fn. 62), § 53 Rn. 210 ff.; Jahn, 67. Deutscher Juristentag. Gutachten C, 2008, 22 ff., 104 ff.

[67] Vgl. die Zusammenstellung bei Lindemann (Fn. 64), 137 ff.

[68] Im Experiment von Wistrich/Guthrie/Rachlinski University of Pennsylvania Law Review 153 (2005), 1251, 1286 ff., hatten diese erhebliche Schwierigkeiten, Beweise auszublenden, deren Unverwertbarkeit sie selbst festgelegt hatten (zusammenfassend Rachlinski/Wistrich Annual Review of Law and Social Science 13 (2017), 203, 216 ff.; siehe ferner die auf widerrufene Geständnisse bezogenen Befunde bei Wallace/Kassin Law and Human Behavior 36 (2012), 151; Kassin American Psychologist 67 (2012), 431; Mindthoff/Ferreira/Meissner Law and Human Behavior 48 (2024), 163).

[69] Nur bei der ganz ausnahmsweise erfolgenden Berücksichtigung dieser Befunde wird über Konsequenzen (also andere Mittel zur Abschirmung des kontaminierten Beweismaterials) nachgedacht (vgl. Lindemann (Fn. 64), 145 ff.: Vernichtung des Beweismaterials; richterliche Befangenheit).

[70] Lieber, Bruchstücke über Gegenstände der Strafkunde, besonders über das Eremitensystem, 1845, 35.