Das „Junge Strafrecht“ gibt es nunmehr seit 15 Jahren und 10 Tagungen. Anders als die Assistententagungen im Öffentlichen Recht und im Zivilrecht, die längst eine jahrzehntelange Tradition entfaltet haben, ist es damit im wahrsten Sinne des Wortes immer noch jung. Ursprünglich war es die Idee von Andreas Popp, Georg Steinberg und Brian Valerius, dem strafrechtswissenschaftlichen Nachwuchs ein eigenes Forum zu schaffen. Sie organisierten die erste Tagung 2010 in Köln. Hier wurde Beatrice Brunhöber als Sprecherin gewählt, die die Idee mit viel Engagement und enormem Zeiteinsatz beharrlich weiterverfolgte und ohne die es das Junge Strafrecht heute nicht gäbe.
Das Junge Strafrecht füllte eine Lücke: Bis dahin fehlte ein gesamtstrafrechtswissenschaftliches Forum, das sich speziell an Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler richtete. Die Symposien des Jungen Strafrechts eröffnen dem Nachwuchs – von Studierenden bis zu Privatdozentinnen – die Möglichkeit, eigene Projekte in einem größeren Forum und zugleich in einem geschützten Raum zu präsentieren, in
kollegialer Atmosphäre zu diskutieren und sich auch jenseits des fachlichen Programms kennenzulernen und zu vernetzen. Damit entstand eine Plattform, die fachlichen Austausch ebenso fördert wie den Austausch über die Unwägbarkeiten einer wissenschaftlichen Karriere. Viele der damaligen Vortragenden und Organisatorinnen und Organisatoren sind heute selbst Professorinnen und Professoren. Dass sie nun ihrerseits den eigenen Nachwuchs ausdrücklich zur Teilnahme ermutigen, zeigt die andauernde Verbundenheit zum Jungen Strafrecht und die Relevanz der Symposien auch für individuelle akademische Biografien.
Seit dem 14.11.2016 ist das Junge Strafrecht als gemeinnütziger Verein organisiert. Die durchaus aufwendige Vereinsgründung – wir erinnern uns an nächtliche Arbeiten an Satzung, Logo und Homepage, zähes Ringen mit dem Finanzamt und ein lustiges Gründungstreffen –, sollte dem Forum eine festere Struktur verleihen, Spenden und Mitteltransfer erleichtern und damit finanziellen Druck von den Organisationsteams nehmen.
Der Aufwand scheint sich gelohnt zu haben. Nach dem Kölner Auftakt folgten Tagungen in Berlin, Frankfurt am Main, Göttingen, Erlangen/Nürnberg, Potsdam, Hamburg, München, Zürich, wieder Berlin und nun Freiburg.[1] Die Nachhaltigkeit des Konzepts belegt auch die inzwischen auf zehn Tagungsbände angewachsene Reihe, deren Sichtbarkeit und Rezeption durch Nomos gesichert ist. Sie gehört heute zu einem festen Bestandteil der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft, was auch der geschickten Wahl der zugleich grundlegenden wie aktuellen Themen zu verdanken ist. So liegt es auch bei dem hier besprochenen Band zum zehnten Symposium, das 2024 in Berlin zum Thema „Strafrecht und Krise“ stattfand. Organisiert wurde es von Anneke Petzsche, Inga Schuchmann und Andreas Werkmeister von der HU Berlin und Leonie Steinl von der Universität Münster, die damit auch als Herausgebende fungieren.
Der Band eröffnet in seinem ersten, mit „Grundlagen“ überschriebenen Teil mit zwei Beiträgen, die den Krisendiskurs begrifflich und ideengeschichtlich rahmen. Hannah Ofterdinger entwickelt anhand der Beispiele der Reform der §§ 277, 279 StGB in der Covid-Pandemie und die Einführung des § 184j StGB nach der sogenannten „Kölner
Silvesternacht“ den Begriff des „reaktiven Strafrechts“: Strafrecht, das in kurzer Zeit unter dem Eindruck einer als existentiell empfundenen Bedrohung geschaffen wird und dabei sehr unterschiedlich und zum Teil rein symbolisch wirkt. Sie mahnt, dass symbolisches Strafrecht nicht nur ineffektiv ist, sondern das Strafrecht selbst in Legitimationskrisen stürzen kann. Florian Rebmann und Simon Schlicksupp spüren den Linien der „sozialnormtransformativen Kriminalpolitik“ nach, die in der kritischen Kriminalwissenschaft der 1960er Jahre mit ihrer im Kern strafrechtsbegrenzenden Tendenz wurzelt, das Strafrecht jedoch auch als Mittel zur Veränderung unerwünschter gesellschaftlicher Verhältnisse und Normen versteht. Sie weisen darauf hin, dass die Effektivität eines so verstandenen Strafrechts unklar ist, und mahnen an, dass das sozialnormtransformative Paradigma den zunehmenden Einzug von Gesinnungsmerkmalen ins Strafrecht zu begünstigen scheine. Gemeinsam ist beiden Beiträgen, dass sie Ambivalenz sichtbar machen: Strafrecht kann in Krisenlagen handlungsfähig machen und soziale Prozesse beeinflussen, ist aber immer auch anfällig für Missbrauch und Überlastung. Dabei stellen beide Beiträge keine simplen politischen Forderungen, sondern insistieren auf Differenzierung und markieren zugleich den Grundton des Tagungsbandes, skeptisch gegenüber einem als Allzweckmittel missverstandenen Strafrecht zu sein.
Der zweite Teil befasst sich mit dem Strafrecht in der Klimakrise und konkretisiert so das Thema des Bandes anhand eines nicht nur akuten, sondern auch strukturellen und globalen Krisentypus. Nina Schrott zeichnet die Konturen eines „Klimakrisenstrafrechts“. Ihr Beitrag zeigt, dass das Strafrecht das Klima über manche Straftatbestände des Besonderen Teils bislang allenfalls mittelbar schützt. Über Art. 20a GG ließen sich klimaschutzrelevante Aspekte in der Auslegung berücksichtigen, sofern die Tatbestände hierfür offen seien. Für ein zukünftiges Klimakrisenstrafrecht müssten jedoch sowohl neue Tatbestände geschaffen als auch die dogmatische Grundherausforderung der Zurechnung überwunden werden. Der Beitrag von Jennifer Grafe schließt nahtlos an, indem er den Möglichkeiten nachgeht, die Verschwendung von Lebensmitteln in Zeiten einer mit der Klimakrise zusammenhängenden globalen Nahrungsmittelkrise zu kriminalisieren. Dabei reduziert Grafe das Problem nicht auf die Einzelfrage des Containerns, sondern weist darauf hin, dass die geltende Rechtslage – anders als in Frankreich oder Italien – das strukturelle Problem der Lebensmittelverschwendung nicht angehe.
Grafe erörtert die Idee eines Straftatbestands, der Nahrungsmittelverschwendung auch von Privatpersonen pönalisiert. Tjarda Tiedeken untersucht klimaaktivistische Sitzblockaden. Für sie verdient bei deren strafrechtlicher Beurteilung besondere Aufmerksamkeit, dass die Klimabewegung mit der Begrenzung der Erderwärmung auf möglichst 1,5 °C ein bereits gesetzlich festgeschriebenes Ziel verfolge. Zwar könne dies bei der Prüfung von § 34 StGB oder der Verwerflichkeitsklausel des § 240 StGB berücksichtigt werden. Andererseits erfolge der durch „Staatsversagen“ gerechtfertigte Eingriff gegenüber Privaten, und § 34 StGB sei ungeeignet, gesellschaftliche Konflikte aufzulösen. Auch könnten die Strafzwecke durch eine Sanktionierung von Klimaaktivisten nicht (hinreichend) erreicht werden. Letztlich bleibe das Strafrecht für die Lösung gesellschaftlicher Grundkonflikte ein zu grobes Instrument. Die drei Beiträge eint eine gemeinsame Einsicht: Das Strafrecht kann die Klimakrise nicht „lösen“. Es kann punktuell reagieren, Missstände markieren oder symbolisch begleiten – aber es stößt an seine systemischen Grenzen. Auffällig ist, dass die ökonomischen Hauptverursacher der Klimakrise – multinationale Unternehmen, globale Märkte – im kriminalpolitischen Fokus kaum präsent sind. Diese Leerstelle verweist auf ein strukturelles Problem: Das Strafrecht tendiert dazu, individuelle Verantwortung zu adressieren, während kollektive Ursachen unsichtbar bleiben.
Im dritten Teil rücken die Grenzen des Strafrechts in Krisenzeiten in den Vordergrund. Franziska Gruber analysiert die gesetzgeberische Reaktion auf die sogenannte „Flüchtlingskrise“ und stellt eingangs fest, dass der Begriffsprägung weniger die Not der Geflüchteten, denn der Umgang der europäischen Staaten zugrunde liegt. Sie macht eine Verrechtlichung und insbesondere Verstrafrechtlichung der Migration aus, die jeweils ambivalent wirken: Die Verrechtlichung biete den Geflüchteten theoretisch durch Aufzeigen von Bleibeperspektiven Planungssicherheit. Allerdings würden migrationsrechtliche Debatten oft mit den Mitteln des Strafrechts ausgefochten. Diese Verstrafrechtlichung wirke repressiv gegen Schutzsuchende, könne vereinzelt aber auch zum Schutz der Geflüchteten eingesetzt werden. Linda Bläsi untersucht in ihrem Beitrag die schweizerischen Notverordnungen in der Pandemie. Ihr Befund ist deutlich: Freiheitsstrafen in exekutiven Notverordnungen verletzen die Anforderungen von Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit und Gesetzesvorbehalt. Bläsi zeigt damit, wie schnell rechtsstaatliche Standards in Krisen
ins Rutschen geraten können – und dass gerade das Strafrecht in solchen Situationen einer besonders strengen Rechtfertigung bedarf. Die Gemeinsamkeit beider Beiträge liegt darin, dass sie die rechtsstaatlichen Fesseln des Strafrechts betonen. Während der zweite Teil noch die Frage stellte, ob Strafrecht Krisen wirksam adressieren kann, zeigt der dritte Teil, dass es selbst in Krisen an seine legitimen Grenzen gebunden bleibt. Die Gefahr besteht nicht im „zu wenig“, sondern im „zu viel“ Strafrecht.
Der vierte und abschließende Teil öffnet den Blick auf das Thema „Krise und Strafrechtskritik“ – und damit auf die inneren Krisen des Strafrechts. Laura Midey nimmt die „Haustyrannen“-Rechtsprechung in den Blick und unterzieht das Notwehrrecht einer feministischen Kritik. Ihr Beitrag zeigt, wie die Auslegung des Notwehrrechts patriarchale Denkmuster reproduziert, indem Gewalt in Partnerschaften als Notstand, nicht als dauerhafter Angriff interpretiert wird. Ihr Vorschlag, häusliche Gewalt als kontinuierlichen Angriff im Sinne von § 32 StGB zu werten, ist normativ weitreichend und würde die Verantwortung neu verteilen: weg von der Erwartung an das Opfer, staatliche Hilfe zu mobilisieren, hin zur Anerkennung der strukturellen Gewalt. Pascale Fett widmet sich der Jugenddelinquenz. Der zahlenmäßige Anstieg in den Kriminalstatistiken der Jahre 2022/2023 dient ihr als Anlass, das Verhältnis von Krise und Jugendkriminalität zu reflektieren. Ihr Befund: Jugend ist selbst eine Krisenzeit, die von Grenzüberschreitungen geprägt ist. Verstärkt durch Pandemie-Folgen wie Isolation und familiäre Belastungen erklärt sich die Zunahme ohne Rückgriff auf eine vermeintliche „Verrohung der Jugend“. Konsequent weist FettForderungen nach Absenkung der Strafmündigkeit zurück und betont, dass Kinder und Jugendliche in erster Linie soziale Stärkung brauchen, nicht strafrechtliche Stigmatisierung. Felix Butz schließlich wagt den Schritt in die Zukunft: trans- und posthumanistische Szenarien. Sein Beitrag verdeutlicht, dass die Krise des Strafrechts auch in den Grundlagen unseres Menschenbildes liegen kann. Transhumanistische Eingriffe stellen die Frage, wie lange das Strafrecht genetische Manipulation verbieten kann. Posthumanistische Entwürfe, die den Menschen als Kategorie überwinden wollen, entziehen sich einer klassischen strafrechtlichen Analyse, stoßen aber unweigerlich auf die Grundnorm der Menschenwürde. Butz zeigt, dass das Strafrecht schon heute posthumane Züge trägt, etwa im Umweltstrafrecht oder bei der Nebenklage juristischer Personen. Diese Beiträge verbindet, dass sie die Krise nicht von außen, sondern von innen denken: Das Strafrecht selbst steht
auf dem Prüfstand – sei es wegen patriarchaler Dogmen, generationeller Zuschreibungen oder anthropologischer Selbstverständlichkeiten. Damit weitet der vierte Teil den Blick und macht deutlich, dass „Krise“ nicht nur Ausnahmezustand, sondern auch Strukturproblem sein kann.
Den Herausgebenden ist es gelungen, zu einem Thema am Puls der Zeit eine Vielfalt überwiegend kritischer Perspektiven und richtungsweisender Zugriffe auf das Strafrecht in der Krise zu versammeln. Als nicht mehr ganz so junge (aber jung gebliebene!) Strafrechtlerinnen und Strafrechtler, die das Projekt einige Jahre intensiv mitbegleitet haben, wünschen wir dem Jungen Strafrecht auch weiterhin derart ertragreiche Tagungen und, dass es in Zukunft seine eigene jahrzehntelange Tradition entfalten möge!
Anna H. Albrecht ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Medienstrafrecht und Strafrechtsvergleichung an der Universität Potsdam. Kontakt: anna.albrecht@uni-potsdam.de.
Julia Geneuss, LL.M. (NYU) ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Potsdam. Kontakt: julia.geneuss@uni-potsdam.de.
Erol Pohlreich ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Sanktionenrecht und Menschenrechte an der Europa-Universität Frankfurt (Oder). Kontakt: pohlreich@europa-uni.de.
[1] Informationen zu den Tagungsthemen, Tagungsberichten und Tagungsbänden sowie zum Jungen Strafrecht e.V. allgemein finden sich unter www.jungesstrafrecht.de.