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„[D]ass in ihr scharfe politische Gegner [und Gegnerinnen, Anm.] sich zu wissenschaftlicher Arbeit zusammenfinden.“[1]

Liebe Leserinnen und Leser,

wir freuen uns sehr, Ihnen die erste Ausgabe der Neuen Strafrechtswissenschaft (NSW) vorzustellen. Mit dieser und allen folgenden Ausgaben verbinden wir den eben zitierten Wunsch Webers – dass also diese Zeitschrift eine Plattform für einen offenen wissenschaftlichen Austausch werden möge.

Die thematische Ausrichtung der NSW wird schwerpunktmäßig auf der Diskussion grundlegender Fragestellungen der Strafrechtsdogmatik, Strafrechtsgeschichte, (Straf-)Rechtsphilosophie und des Strafprozessrechts liegen. Ein besonderes Anliegen ist es uns, die in den letzten Jahren aufgekommene Debatte über Gegenwart und Zukunft der deutschen Strafrechtswissenschaft aufzugreifen. Darüber hinaus bietet die NSW ausdrücklich auch ein Forum für Beiträge, die das Nebenstrafrecht oder interdisziplinäre Gebiete betreffen, wie das Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, das Jugendstrafrecht, das Strafvollzugsrecht, die Kriminologie und die Rechtssoziologie. Die erste Ausgabe der NSW ist hinsichtlich dieses thematischen Horizonts exemplarisch und greift nicht nur die erwähnte Diskussion über die Natur der Strafrechtswissenschaft auf, sondern behandelt daneben Probleme des Kernstrafrechts, strafrechtliche

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Herausforderungen im Zusammenhang mit der zunehmenden Digitalisierung und die Frage nach den Grenzen eines modernen Strafrechts.

Bei der Umsetzung unserer Idee von einer offenen und zugänglichen Plattform für den strafrechtswissenschaftlichen Austausch geht die NSW neue Wege – sie erscheint sowohl im Open-Access-Format als auch unter Verwendung eines Double-Blind-Peer-Review-Verfahrens.

Die Entscheidung für ein Open-Access-Format abseits einer Verlagsbindung basiert auf der Überzeugung, dass Wissen frei zugänglich sein sollte. Gerade in der aktuellen Zeit, in der das Strafrecht mit neuer Vehemenz zum Gegenstand politischer Debatten wird, sollten die Überlegungen und Ergebnisse der Strafrechtswissenschaft nicht hinter einer „Paywall“ verborgen bleiben und so die Divergenzen zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen weiter verstärken. Dies gilt umso mehr, wenn die Personen, die diese Überlegungen anstellen, wie hier in Deutschland durch die öffentliche Hand finanziert werden. Gleichzeitig ist auch der internationale wissenschaftliche Austausch auf eine Zugänglichkeit wissenschaftlicher Ideen und Konzepte angewiesen. Sprachhürden verlieren in Zeiten von „DeepL“ und „Google Translate“ an Bedeutung – diese Entwicklung könnte auch die Strafrechtswissenschaft in noch größerem Maße nutzen.

Beispiele für Open-Access-Strukturen in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft abseits einer Verlagsbindung – etwa die ZfIStW, die KriPoZ, die KrimOJ oder der Verfassungsblog – bilden bislang jedoch die Ausnahme.[2] In anderen Ländern und anderen Wissenschaftsdisziplinen ist die Verbreitung von Open-Access-Strukturen dagegen schon weit fortgeschritten. Auch der Wissenschaftsrat als wissenschaftspolitisches Beratungsgremium von Bund und Ländern hat sich für Open Access als Publikationsstandard ausgesprochen;[3] insbesondere bei wissenschaftlichen

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Zeitschriften soll die Transformation zu Open Access zeitnah und vollständig erreicht werden. Wir freuen uns, dass wir mithilfe einer Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unseren Beitrag dazu leisten können, diese Entwicklung in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft voranzubringen. Unsere Strukturen gewährleisten, dass die Veröffentlichung und Lektüre von Beiträgen in der NSW dauerhaft kostenfrei möglich sind.

Daneben fördert die Einführung eines Double-Blind-Peer-Review-Verfahrens das Ziel einer Plattform, die allen Autorinnen und Autoren gleichermaßen offensteht. International sowie in den meisten anderen wissenschaftlichen Disziplinen gehören Double-Blind-Peer-Review-Verfahren mittlerweile zum wissenschaftlichen Standard. Die Entscheidung über die Annahme von Beiträgen treffen nicht die jeweiligen Herausgeberinnen und Herausgeber, sondern Gutachterinnen und Gutachter. Diese kennen die Identität der Autorinnen und Autoren nicht und vice versa – daher „double blind“.[4] Diese Anonymität während des Begutachtungsprozesses soll sicherstellen, dass die Qualität des Beitrags im Vordergrund steht, und Faktoren wie etwa der wissenschaftliche Status oder das Geschlecht der Autorinnen und Autoren keine Rolle spielen. Forschungsergebnisse belegen, dass Herausgeberinnen und Herausgeber – allen redlichen Absichten zum Trotz – bestimmten unbewussten Vorbehalten unterliegen. Dies führt beispielsweise dazu, dass Beiträgen männlicher Autoren oftmals eine höhere wissenschaftliche Qualität zugesprochen wird und diese eine höhere Aussicht haben, zur Veröffentlichung angenommen zu werden, als Beiträge von Autorinnen.[5]

Double-Blind-Peer-Review-Verfahren bei der NSW heißt: Nicht wir als Herausgeberinnen und Herausgeber entscheiden über die Annahme von Beiträgen, sondern Gutachterinnen und Gutachter. Peer-Review-Verfahren mögen gewissen Herausforderungen ausgesetzt sein und stehen daher in ihrer genauen Ausgestaltung zu Recht in der Diskussion. Die Erfahrungen aus den ersten Durchgängen der Peer-Review-Verfahren

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stimmen uns jedoch sehr positiv, dass dadurch eine offene, d.h. diskriminierungsfreie, Auswahl qualitativ hochwertiger Beiträge erfolgt. Gleichwohl werden wir die Prozesse zukünftig sorgsam begleiten, regelmäßig evaluieren und ggf. anpassen.

Die Etablierung von Open Access und Peer-Review-Verfahren verbindet die NSW mit einem weiteren Anliegen. Für Aufsätze ist eine Zeichenbegrenzung von 35.000 Zeichen und für Anmerkungen und Rezensionen von 8.000 Zeichen vorgesehen. Hiermit möchten wir dem Trend hin zu überlangen Beiträgen entgegenwirken – kürzere Beiträge fördern unserer Überzeugung nach Prägnanz und Austausch. Die NSW nimmt daher einen internationalen Trend auf, der von der Harvard Law Review initiiert wurde und dem bereits viele weitere US-amerikanischen Law Journals gefolgt sind.[6] Nicht alle Gedankengänge werden sich in dieser Knappheit darstellen lassen, doch stehen in diesen Fällen weiterhin die etablierten Veröffentlichungsorgane zur Verfügung.

Uns bleibt zuletzt all jenen zu danken, die zu dieser ersten Ausgabe beigetragen haben – den Autorinnen und Autoren für die Einreichung von Beiträgen zu einer erst in der Gründung befindlichen Zeitschrift sowie den Gutachterinnen und Gutachtern für die Übernahme des Reviews. Wir danken auch unserem Redaktionsteam, Laureen Balz, Julia Prigl und Erik Warschkow, für ihr überragendes Engagement und ihr Herzblut, das sie in die Gestaltung des Internetauftritts und die erste Ausgabe haben einfließen lassen.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir nun viel Freude bei der Lektüre der ersten Ausgabe. Die NSW wird künftig quartalsmäßig erscheinen. Sollten Sie keine Ausgabe der NSW verpassen wollen, können Sie sich für unseren Newsletter anmelden. Zudem können Sie uns auch auf Instagram @neuestrafrechtswissenschaft folgen.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Victoria Ibold – Kristina Peters – Nina Schrott – Thomas Steenbreker


[1] So anlässlich der Übernahme der Herausgeberschaft des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, ursprünglich erschienen im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 19 (1904), S. 22–87, Nachdruck in: Weber/Winckelmann (Hrsg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922 [1988], S. 146, 157 f.

[2] Eine Erhebung aus dem Jahr 2019 nennt gerade einmal 47 Internetzeitschriften für den gesamten Bereich der Rechtswissenschaft. Hiervon weisen nur sechs Zeitschriften einen strafrechtlichen Einschlag auf. Zum Ganzen Hamann/Hürlimann in Hamann/Hürlimann (Hrsg.), Open Access in der Rechtswissenschaft, 2019, 3, 85, 90 f. Siehe auch Engel/Schön in Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, IX: „Juristen stellen ihre Texte nicht im Internet zur Verfügung.“; ähnlich Eisentraut Open Access in der Rechtswissenschaft, RBD 48 (2018), S. 87, 88. Die Skepsis der Rechtswissenschaft gegenüber Open Access betont auch das open-access.network, ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt zur Schaffung neuer Informations- und Vernetzungsangebote, siehe hierzu https://open-access.network/informieren/open-access-in-fachdisziplinen/rechtswissenschaft#c1060.

[3] Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Access (Drs. 9477-22), Januar 2022, 8, abrufbar unter https://www.wissenschaftsrat.de/download/2022/9477-22.pdf?__blob=publicationFile&v=20.

[4] Instruktiv Forsberg/Geschwind/Levander/Wermke (Hrsg.), Peer review in an Era of Evaluation. Understanding the Practice of Gatekeeping in Academia, Cham 2022.

[5] Siehe statt vieler etwa Knobloch-Westerwick/Glynn/Huge Science Communication 35 (5/2013), 603 ff.; Kern-Goldberger/James/Berghella/Miller American Journal of Obstetrics and Gynecology 227 (1/2022), 43 ff.; Fox/Paine Ecology and Evolution 9 (3/2019), 3599 ff. und allgemein zum Problem Roper Microbiol Mol Biol Rev 83:e00018-19. Ähnliche Effekte dürfte es auch hinsichtlich des wissenschaftlichen Status, der universitären Anbindung oder auch gegenüber Autorinnen und Autoren, deren Namen auf einen Migrationshintergrund hindeuten, geben.

[6] https://harvardlawreview.org/wp-content/uploads/2014/03/articles_length_policy.pdf; für eine Zeichenbegrenzung spricht sich auch Walter ZIS 2023, 298, 304, aus.