A. Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Die Debatte um die Legalisierung von Cannabisprodukten hat es nicht nur in den Deutschen Bundestag, sondern auch vor das BVerfG geschafft. Trotz erheblicher Kritik[1] hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur Entkriminalisierung von Cannabis (CanG) von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) in den Bundestag eingebracht.[2] Jüngst beschäftigte sich auch das BVerfG mit dem strafbewehrten Cannabisverbot, nachdem mehrere Amtsgerichte Richtervorlagen formulierten. Sie erachteten die Strafnormen des BtMG, soweit sie den Umgang mit Cannabisprodukten betreffen, für verfassungswidrig.[3]
Die §§ 29 ff. BtMG enthalten die Strafvorschriften des Betäubungsmittelrechts. Darunter fallen auch verschiedene Formen des unerlaubten Umgangs mit den in Anlage I zum BtMG bezeichneten Cannabisprodukten. Bereits im Jahr 1994 hatte das BVerfG entschieden, dass das umfassende
Verbot des Umgangs mit Cannabisprodukten mit dem Grundgesetz vereinbar sei.[4] Das BVerfG hat in dieser früheren Entscheidung festgestellt, dass zwar ein Recht auf Rausch existiere, dass dieses aber den Beschränkungen des Art. 2 I GG unterliege, weil der Umgang mit Drogen wegen seiner vielfältigen Aus- und Wechselwirkungen nicht zum Kernbereich privater Lebensgestaltung zähle.[5] Bei der Einschätzung und der Prognose der drohenden Gefahren für den Einzelnen und die Allgemeinheit erkannte das BVerfG dem Gesetzgeber einen Beurteilungsspielraum zu.[6] Es sei verfassungsrechtlich hinzunehmen, dass der Gesetzgeber auf den Einsatz strafrechtlicher Mittel setzt. Er dürfe daher an der Auffassung festhalten, dass das strafbewehrte Cannabisverbot eine größere Anzahl potentieller Konsumenten abschrecke, als die Aufhebung der Strafdrohung, sodass es besser zum Rechtsgüterschutz geeignet sei.[7]
Das BVerfG hat die Richtervorlagen unter Berufung auf diese frühere Entscheidung als unzulässig verworfen (vgl. § 81a BVerfGG):[8] „Eine konkrete Normenkontrolle ist jedoch kein Mittel der allgemeinen Aufsicht über den Gesetzgeber.“[9] Es fehle nicht nur an der Entscheidungserheblichkeit für das jeweilige Ausgangsverfahren. Die Vorlagen genügten auch nicht den erhöhten Begründungsanforderungen, die an eine erneute Vorlage zu stellen seien. Es fehle an einer substantiierten Darlegung rechtserheblicher Änderungen der Sach- und Rechtslage seit dem Jahr 1994, welche geeignet seien, eine erneute verfassungsrechtliche Überprüfung zu veranlassen. Das BVerfG geht daher auch in der aktuellen Entscheidung davon aus, dass es zwar ein Recht auf Rausch gebe. Dieses unterliege aber den Beschränkungen des Art. 2 I GG. Der Umgang mit Drogen gehöre nicht zum unbeschränkbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung.[10]
B. Stellungnahme
Ob sich die Sach- und Rechtslage seit dem Jahr 1994 tatsächlich nicht geändert hat, ist eine berechtigte Frage. Immer wieder kamen Diskussionen über eine überholte Drogenpolitik im Umgang mit dem Cannabisverbot auf.[11] Strafrechtlich muss insbesondere die Frage nach dem Schutzzweck der Strafvorschriften beantwortet werden, um deren Existenz zu rechtfertigen. Das BVerfG stellt dazu fest, dass das BtMG die Gesundheit des Einzelnen und der Bevölkerung insgesamt vor den schädlichen Auswirkungen des Drogenkonsums und insbesondere Jugendliche vor einer Betäubungsmittelabhängigkeit schützen, und das Zusammenleben der Bevölkerung vor den sozialschädlichen Wirkungen durch den Umgang mit Drogen bewahren soll.[12] Aber greift dieser Schutzgedanke noch immer für die sogenannte weiche Droge Cannabis?
Dem Gesetzgeber kommt, so das BVerfG, bei der Ausgestaltung und Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsraum zu.[13] Gerade bei einer noch unsicheren Gefahrenlage genüge es, wenn sich der Gesetzgeber an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung der ihm verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten orientiert hat.[14] Fraglich ist, ob sich die Studienlage zu den gesundheitlichen Risiken derart geändert hat, dass die Grenzen dieses gesetzgeberischen Ermessensspielraums überschritten sind und der legitime Zweck damit überholt ist.
Cannabis hat sich gemessen an den Zahlen der Konsumenten zu einer gesellschaftlich akzeptierten Droge entwickelt: Eine aktuelle Studie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 16 und 27 Jahren in Berlin hat ergeben, dass ca. 16% in den letzten 30 Tagen, 29% in den letzten zwölf Monaten Cannabis konsumiert hatten. Knapp 14% derjenigen, die in den letzten 30 Tagen Cannabis konsumierten, taten dies an mehr als 20 Tagen.[15] Nach einer weiteren Studie haben ca. 9% der 18 bis 64
Jährigen (ca. 4,5 Millionen) im Jahr 2021 Cannabis konsumiert.[16] Cannabis ist damit die illegale Droge, die am häufigsten konsumiert wird.[17] Nach einer Legalisierung ist damit zu rechnen, dass der Konsum weiter zunimmt.[18]
Die gesellschaftliche Akzeptanz von Cannabiskonsum ist aber nicht Ausdruck neuer Erkenntnisse über dessen Konsum. Die schädlichen Auswirkungen auf einen erwachsenen Gelegenheitskonsumenten haben sich zwar als weit weniger gefährlich erwiesen, als dies bei den sogenannten harten Drogen der Fall ist.[19] Mit dem Konsum von Cannabis gehen aber gesundheitliche Gefährdungen einher. Die Wirkungen sind weniger vorhersehbar als beim Alkohol, weil sich das THC wegen des stark schwankenden Wirkstoffgehalts gerade nicht dosieren lässt.[20] Die Gedächtnisleistung, Aufmerksamkeit und Psychomotorik können beeinträchtigt sein.[21] Chronischer Konsum kann die Arbeitsweise und den Aufbau des Gehirns verändern und zählt als Risikofaktor für psychische Erkrankungen wie Psychosen, bipolare Störungen und Depressionen.[22] Jeder zehnte Konsument entwickelt eine Abhängigkeitserkrankung,[23] jeder vierte zwischen 18 und 64 Jahren zeigt ein problematisches Konsumverhalten[24]. Nimmt man Kinder und Jugendliche in den Blick, sind die beschriebenen Gesundheitsrisiken noch einmal erhöht: Gerade bei ihnen sind die Auswirkungen eines regelmäßigen Konsums weniger vorhersehbar und besonders gefährlich, weil die Hirnentwicklung noch nicht abgeschlossen ist.[25] Die Gefahren des Umgangs mit Cannabis sind also nicht gänzlich weggefallen. Dem BVerfG ist daher zuzustimmen, dass die Ausführungen aus dem Jahr 1994 weiterhin verfassungsrechtlich tragfä-
hig sind, weil nicht unbeträchtliche Gefahren für die Gesundheit verbleiben.[26] Für unsichere Gefahrenlagen darf der Gesetzgeber aufgrund seines Ermessensspielraums mit den Mitteln des Strafrechts eingreifen.
Allerdings könnte man dem entgegenhalten, dass selbstschädigendes Verhalten nicht durch das Strafrecht unterbunden werden darf. Der Schutzzweck einer Strafvorschrift liegt im Schutz fremder Rechtsgüter.[27] Jeder Mensch darf sich aber selbst verletzen oder sich das Leben nehmen. Die vorlegenden Amtsgerichte verwiesen in diesem Zuge auf die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB a.F.) aus dem Jahr 2020.[28] Der Vergleich hinkt jedoch, denn der Erwerb und der Besitz von Cannabis eröffnen die unkontrollierte Weitergabe an Dritte und es sind soziale Aus- und Wechselwirkungen möglich:[29] Dies kann gerade auch Minderjährige betreffen, die besonders geschützt werden sollen. Durch eine Entkriminalisierung würde die Hemmschwelle für den Konsum von Cannabis sinken.[30] Es wird kaum möglich sein, den Eigenbedarf zu kontrollieren. Die Schadensdimension beschränkt sich nicht allein auf den Konsumenten.[31] Bei einer assistierten Selbsttötung sind dagegen keine Wechselwirkungen eines solchen Ausmaßes zu erwarten.
Geschützt wird also keine bloße Moralvorstellung wie es eine der Richtervorlagen beschreibt.[32] Der Schutzzweck des Betäubungsmittelstrafrechts lässt sich vielmehr auch in Bezug auf Cannabis begründen. Die Grenzen des gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums sind auch nach den heutigen Erkenntnissen nicht überschritten und die „vier Säulen“ der Drogenpolitik[33] – Strafrecht, Prävention, Therapie und Schadensreduzierung – nicht überholt. Die Entscheidung des BVerfG verdient daher Zustimmung.
Problematisch bleibt allerdings eines: Wenn die einzelne Tat nur geringe Mengen Cannabis betrifft, geht von ihr bzw. dem Täter nur eine geringe Rechtsgutsgefährdung und ein geringes Maß individueller Schuld aus.
Die Verhängung von Kriminalstrafen gegen „Probierer“ und Gelegenheitskonsumenten kann in ihren Auswirkungen auf den einzelnen Täter spezialpräventiv zu nachteiligen Ergebnissen führen.[34] Dem geringen Unrechts- und Schuldgehalt solcher Taten kann aber durch das Absehen von Strafe (§ 29 V BtMG) oder Strafverfolgung (§§ 153 ff. StPO, § 31a BtMG) Rechnung getragen werden.[35] Die Entscheidung darüber liegt im Ermessen der Staatsanwaltschaften und Gerichte. Dies führt zu einer uneinheitlichen Anwendung der Normen und dadurch zu unterschiedlichen Ergebnissen, sodass das Strafbarkeitsrisiko von örtlichen Zufälligkeiten abhängt.[36] Allerdings ist nicht die Legalisierung die Antwort auf dieses Problem. Vielmehr sollten hier eine einheitliche Einstellungspraxis[37] und vor allem eine einheitliche Anwendung des § 31a BtMG das Ziel sein. Die „geringe Menge“ von Cannabis zum Eigenverbrauch in § 31a I BtMG wird in den Bundesländern bislang unterschiedlich definiert.[38] Diese könnte bundeseinheitlich im BtMG konkretisiert werden, so wie es bereits im Gesetzgebungsverfahren zu § 31a BtMG vorgeschlagen wurde.[39]
Die Cannabis-Legalisierung ist durch die Debatte zum CanG eine rechtspolitisch hoch aktuelle Fragestellung. Die von den Befürwortern der Legalisierung erhoffte Unterstützung brachte der Beschluss des BVerfG jedoch nicht. Die Entscheidung dürfte in der Debatte daher eine eher untergeordnete Rolle spielen. Ein kritischer Unterton zu der geplanten Cannabis-Legalisierung ist zwar aus der Entscheidung herauszulesen.[40] Im Fokus standen jedoch der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und die Anforderungen an eine konkrete Normenkontrolle.[41]
Anne Baldauf, M.mel., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie und Doktorandin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
[1] Zur Kritik: Redaktion beck-aktuell, „Kompletter Kontrollverlust“: Kabinett bringt Cannabis-Legalisierung auf den Weg, Meldung v. 16.8.2023, becklink 2028081, abrufbar unter: http://tinyurl.com/ym2ry2uf; Suliak, „FDP und Grüne pochen auf Änderungen“, LTO v. 7.11.2023, abrufbar unter: http://tinyurl.com/yc46w6jr (Online-Quellenangaben zuletzt abgerufen am 17.1.2024).
[2] Vorgesehen ist, Cannabis im BtMG als verbotene Substanz auszunehmen. Mit Volljährigkeit sollen der Besitz von 25 Gramm und der Anbau von drei Pflanzen zum Eigenbedarf erlaubt sein. In sog. Cannabis-Clubs sollen Mitglieder Cannabis gemeinschaftlich anbauen und aneinander abgeben dürfen. Im Überblick: LTO-Redaktion, „Kabinett bringt Cannabis-Legalisierung auf den Weg“, LTO v. 16.8.2023, abrufbar unter: http://tinyurl.com/bdev2jwy.
[3] BVerfG BeckRS 2023, 16492.
[4] BVerfGE 90, 145.
[5] BVerfGE 90, 145, 171 f.
[6] BVerfGE 90, 145, 173.
[7] BVerfGE 90, 145, 183.
[8] BVerfG BeckRS 2023, 16492, Rn. 53 f.
[9] BVerfG BeckRS 2023, 16492, Rn. 63.
[10] So bereits BVerfGE 90, 145, 171 f.
[11] S. etwa Duttge/Steuer ZRP 2014, 181.
[12] BVerfGE 90, 145, 174; BVerfG BeckRS 2023, 16492, Rn. 78.
[13] BVerfGE 88, 203, 254; 96, 56, 64; BVerfG NStZ 2020, 528, 531, Rn. 224.
[14] BVerfG NStZ 2020, 528, 533, Rn. 238.
[15] Kalke/Rosenkranz, Cannabiskonsum von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Berlin v. 19.6.2023, Tabelle S. 7, abrufbar unter: http://tinyurl.com/ss8b6jpv.
[16] S. Rauschert et. al, Deutsches Ärzteblatt 2022, 527, 531, Tabelle 4.
[17] Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Ergebnisse der CaPRis-Studie v. Januar 2018, S. 2, abrufbar unter: http://tinyurl.com/ypkd79te.
[18] Manthey et. al, Policy Paper: Effekte einer Cannabislegalisierung v. April 2023, S. 2, abrufbar unter: http://tinyurl.com/y5vmkx69.
[19] BVerfGE 90, 145, 179.
[20] Paeffgen, in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger, Strafgesetzbuch, 6. Aufl. 2023, Vorb. zu § 323a StGB Rn. 29 m.w.N.
[21] Ergebnisse der CaPRis-Studie, S. 3.
[22] Ergebnisse der CaPRis-Studie, S. 4, 5.
[23] Ergebnisse der CaPRis-Studie, S. 11.
[24] Rauschert et. al, Deutsches Ärzteblatt 2022, 527, 529, 530, Tabelle 2.
[25] Ergebnisse der CaPRis-Studie, S. 3.
[26] BVerfGE 90, 145, 177 f.; BVerfG BeckRS 2023, 16492, Rn. 79.
[27] Roxin/Greco, Strafrecht AT Bd. I, 5. Aufl. 2020, § 2 Rn. 9; BVerfGE 90, 145, 172, 184; 109, 133, 157.
[28] BVerfG NStZ 2020, 528.
[29] BVerfGE 90, 145, 171 f.; BVerfG BeckRS 2023, 16492, Rn. 66.
[30] Duttge/Steuer ZRP 2014, 181, 183.
[31] Duttge/Steuer ZRP 2018, 210, 211.
[32] BVerfG BeckRS 2023, 16492, Rn. 31.
[33] Fabricius, in Patzak/Volkmer/Fabricius, Betäubungsmittelgesetz, 10. Aufl. 2022, § 35 Rn. 27; Duttge/Steuer ZRP 2018, 210, 211.
[34] Wesemann ZRP 2015, 60.
[35] BVerfGE 90, 145, 188 f.
[36] So wird das sogenannte „Nord-Süd-Gefälle“ (liberale Einstellungspraxis im Norden, repressive Einstellungspraxis im Süden) seit vielen Jahren beobachtet und als problematisch angesehen. Vgl. Oğlakcıoğlu, in MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, Vorb. zu § 29 BtMG Rn. 38.
[37] Vgl. BVerfGE 90, 145, 190.
[38] Heinrich/van Bergen JA 2019, 321, 326; WD 3 – 3000 – 196/19 v. 20. August 2019, S. 3, 4.
[39] Körner/Patzak/Volkmer-Patzak, § 31a BtMG Rn. 4.
[40] So auch Wischmeyer JuS 2023, 1085, 1087.
[41] Dazu näher Wischmeyer JuS 2023, 1085, 1087.