Im Kontext unternehmensstrafrechtlicher Fragestellungen taucht der Topos der Menschenrechte üblicherweise selten auf. Dies verwundert nicht, sind mit den Menschenrechten als originär völkerrechtlicher Materie und dem Unternehmensstrafrecht als typischerweise strafrechtlicher Disziplin doch zwei prinzipiell verschiedene Rechtsbereiche betroffen. Aus diesem Grund wurden und werden Aspekte der strafrechtlichen Regulierung unternehmerischer Betätigung bislang auch kaum mit dem staatlich motivierten Anliegen eines effektiven Schutzes der Menschenrechte in Verbindung gebracht. Wirft man jedoch einen Blick auf aktuelle Rechtsentwicklungen, so folgt recht schnell die Erkenntnis, dass nationale wie auch supranationale staatliche Institutionen zunehmend bemüht sind, durch rechtliche Kautelen die Beachtung menschenrechtlicher Standards bei der wirtschaftlichen Betätigung von (inter-)national agierenden Unternehmen abzusichern und gegebenenfalls auch mittels (para-)strafrechtlicher Sanktionen durchzusetzen. Eindeutigster und aktuellster Beweis hierfür ist das in Deutschland zu Beginn des letzten Jahres in Kraft getretene Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG)[1], mit dem Unternehmen für menschenrechtsverletzende Vorgänge bzw. deren fehlende Unterbindung in grenzüberschreitenden Produktionsketten zur Verantwortung gezogen werden sollen. Aber nicht nur das LkSG belegt
diesen Trend einer immer stärker werdenden Einbindung von Unternehmen in die Einhaltung und Umsetzung von Sorgfalts- und Schutzpflichten. Auch die Regularien der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO)[2], des Digital Markets Act (DMA)[3] oder des Hinweisgeberschutzgesetzes (HinSchG)[4] sind beispielhafter Ausdruck des Bestrebens, durch die Etablierung sanktionsbelegter Verhaltenspflichten (vgl. § 24 LKSG, Art. 83 Abs. 4-6 DS-GVO, Art. 30 DMA, § 40 HinSchG) einen fairen und gleichen Wettbewerb zu gewährleisten und auf diese Weise wirtschaftlich tätige Entitäten – sei es unmittelbar oder mittelbar – zur Beachtung menschenrechtlicher Grundsätze anzuhalten.
Bezieht man diese Entwicklung auf multinationale Unternehmen und ihre Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen in den von ihnen häufig als Produktionsstätten gewählten, regelmäßig unterentwickelten Regionen dieser Erde, dann treten die im Untertitel erwähnten Perspektiven eines Wirtschaftsvölkerstrafrechts deutlich zutage. In Zeiten, in denen der Ruf nach mehr Corporate Social Responsibility (CSR) immer lauter wird und Unternehmen mit stetig wachsenden Compliance-Pflichten belegt werden, trifft die Frage nach einer Verbandsverantwortlichkeit auf völkerstrafrechtlicher Ebene einen augenfälligen Nerv der Zeit, denn: „Nationale Rechtsordnungen wie auch das Völkerrecht vermögen es in ihrer derzeitigen Verfasstheit nicht, bestehende Regelungsdefizite, das latente Verletzungsrisiko für Menschenrechte sowie damit einhergehende wettbewerbsrechtliche Verzerrungen wirksam zu handhaben.“ (S. 24). Es ist als das große Verdienst des Herausgebers anzusehen, mit seinem im März 2020 an der Johannes Kepler Universität Linz (JKU) gestarteten Forschungsprojekt „Unternehmensstrafrecht im globalen Wettbewerb und Menschenrechtsschutz (UWM)“, aus dem der nunmehr erste Projektband zu „Perspektiven des Wirtschaftsvölkerstrafrechts“ hervorgegangen ist, einen gewichtigen Beitrag zu diesem dogmatisch fordernden wie rechtspolitisch akuten Anliegen geleistet zu haben.
Der Projektband gliedert sich in insgesamt sechs Kapitel, denen ein bündiges Vorwort von Michael Kubiciel vorangestellt ist. Im ersten Kapitel lässt es sich der Herausgeber nicht nehmen, selbst das Ziel des breit angelegten und drittmittelfinanzierten Forschungsprojektes zu umreißen, mit welchem „das Unternehmensstrafrecht als bedeutsamer Ordnungsfaktor im Lichte des Gebots eines internationalen Menschenrechtsschutzes“ (S. 23) fokussiert werden soll. Forschungsgegenstand sind in erster Linie transnational agierende Unternehmen, die aufgrund ihrer strukturellen Verfasstheit und Größe als „big player“ des internationalen Wettbewerbs entscheidenden Einfluss auf die Weltwirtschaft und damit auch auf die ökonomischen und sozialen Verhältnisse in den Ländern besitzen, die allein aufgrund von Standortvorteilen in die Wertschöpfungs- oder Produktionskette integriert sind. Menschenrechtsverletzungen, die häufig und gerade in diesen Ländern auftreten, sind bislang einer rechtlichen Ahndung nur im Rahmen des Völker(straf)rechts zugeführt worden und dies auch nur dann, wenn staatliche Akteure involviert waren. Wenn jedoch internationale Unternehmensaktivitäten den Ursprung von menschenrechtsverletzenden Umständen bilden, dann greifen derzeit sowohl das Völker(straf)recht als auch das im internationalen Vergleich sehr unterschiedlich ausgeprägte Unternehmensstrafrecht zu kurz.
Genau an diesem Punkt setzt das vom Herausgeber initiierte Forschungsprojekt an, das den Zusammenhang zwischen wirtschaftlich nachvollziehbarem Wettbewerb und zugleich steigendem Risiko für Menschenrechtsverletzungen identifiziert und mit seinen Untersuchungen entscheidende Impulse zur Entwicklung eines international harmonisierten Unternehmensstrafrechts beitragen will. Die ersten vier Abhandlungen zur Grundlegung einer völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit von Verbänden (Pollak), zum Völkerstrafrecht und der Rolle von Unternehmensangehörigen (Schäffler), zu CSR und Unternehmensstrafrecht (Amara) sowie zur Regulierung der Nachhaltigkeit in der EU (Kathollnig) sind in dem hier zu besprechenden Projektband zu finden. Mindestens vier weitere Untersuchungen zu einer Political und Administrative Judgement Rule (Marsch), zu den Strafrechtlichen Implikationen von CSR (Amara), zur Begründung der Zurechnungskriterien des Strafanwendungsrechts im Lichte des öVbVG (Erbilen) sowie zur Repressive Criminal Compliance (Pollak) sollen in einem oder zwei weiteren Projektbänden bis zum Projektschluss im Herbst 2025 folgen.
Bevor sich das Werk dem ersten Untersuchungsbeitrag widmet, zeichnet der Herausgeber gemeinsam mit Stefan Schumann im zweiten Kapitel den allgemeinen Trend hin zu einer verstärkten Unternehmenshaftung nach und führt auf diese Weise in die Thematik des Projektbandes ein. Die Autoren machen deutlich, dass sich das unternehmerische Haftungsportfolio längst nicht mehr auf wettbewerbsrelevante Verstöße beschränkt, sondern zunehmend die auch strafrechtliche Absicherung von CSR zum Schutz von Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards in den Fokus rückt. Für transnationale Unternehmen bedeuten unterschiedliche Haftungsregimes in ihren jeweiligen Heimatländern als status quo potentielle Wettbewerbsnachteile, die es im Sinne eines effektiven Menschenrechtsschutzes zu beseitigen oder jedenfalls abzumildern gilt. Denn nur wenn sich das Haftungsrisiko für menschenrechtsverletzende Produktions- und Dienstleistungen – idealiter weltweit – auf einem identischen Niveau bewegt, kann ein wirksamer Menschenrechtsschutz ohne relevante Wettbewerbsverzerrungen nachhaltig erreicht werden. Dass dieses hehre Ziel rechtlich nur durch eine Zusammenarbeit und Verzahnung der betroffenen Rechtsgebiete, vor allem des Völker- und des Strafrechts, zu erreichen ist, haben die Verfasser treffend benannt: „Ein Grenzgang zwischen den hier gegenständlichen Rechtsmaterien und den in Betracht kommenden Wissenschaftsdisziplinen ist Voraussetzung, sucht man die Haftung von transnationalen Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen, ihre Steuerung, die Bedingungen für wettbewerbsrechtliche Fairness und einen Ordnungsrahmen auszuloten.“ (S. 40). Unter diesem Leitmotiv sind die in den nachfolgenden Kapiteln abgebildeten Forschungsbeiträge zu sehen, die – mit Ausnahme des Beitrags von Kathollnig – allesamt auf abgeschlossenen oder laufenden Dissertationsvorhaben basieren.
Den Auftakt macht Sergio Pollak im dritten Kapitel mit einer sehr lesenswerten Abhandlung zur Grundlegung einer völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit von Verbänden, mit der die rechtsdogmatischen, -theoretischen und -soziologischen Voraussetzungen eines supranationalen Verbandsstrafrechts de lege ferenda untersucht werden. Der Autor setzt hierfür bei der völkerstrafrechtlichen Ordnung als rechtlicher Bezugsebene an und hält es unter Anknüpfung an das systemische Zurechnungsmodell des Völkerstrafrechts für möglich, transnationalen Verbän-
den bei hinreichender Binnenkomplexität eine völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit zuzuerkennen. Als taugliche Strafrechtssubjekte seien transnationale Verbände sodann fähig, durch originäres Verbandsunrecht in Gestalt von vorwerfbarer Desorganisation Verbandsschuld auf sich zu laden, die vorzugsweise mit einer Verbandsgeldstrafe als wirtschaftlicher Freiheitsbeschränkung zu ahnden sei. Pollak kommt in seiner Arbeit zu dem Ergebnis, dass die dogmatischen und rechtstheoretischen Voraussetzungen einer künftigen supranationalen Verbandsstrafrechtsordnung vorliegen und plädiert für ihren Einsatz zur Sanktionierung von Menschenrechtsverletzungen als Folge der wirtschaftlichen Betätigung transnationaler Unternehmen.
Nikolai Schäffler fokussiert im vierten Kapitel die völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmensangehörigen, die durch die Installation und Aufrechterhaltung globaler Lieferketten einen erheblichen Anteil an den zum Teil schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in den als Produktionsstätten genutzten Ländern des globalen Südens haben. Er untersucht hierfür zentral die Möglichkeit der Zurechnung eines völkerrechtlichen Verbrechens zu den Handlungen westlicher Unternehmensangehöriger nach dem Beteiligungssystem des Art. 25 Abs. 3 IStGH-Statut und setzt sich insbesondere mit der Frage der Strafbarkeit berufstypischer Handlungen auseinander. Mittels einer eingehenden Subsumtion des relevanten unternehmerischen Verhaltens unter die Tatbestände des IStGH-Status konzipiert Schäffler überzeugend eine völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmensangehörigen für Menschenrechtsverletzungen, die ihren Ursprung am Anfang der Lieferkette, d.h. regelmäßig in den Ländern mit sowohl rechtlich als auch staatlich defizitären Strukturen, nehmen.
Es folgt im fünften Kapitel ein ansprechender Beitrag von Nihad Amara zur Integrationsfähigkeit von CSR als klassischem soft law in das typischerweise auf „harte“ Sanktionen ausgerichtete Strafrechtssystem. Hintergrund der Untersuchung ist das Anliegen, Maßgaben zu CSR aus ihrer bisherigen völkerrechtlichen Isolation zu heben und Ansätze zur Schaffung eines verbindlichen Rechtsrahmens für unternehmerische Verantwortung zu entwickeln. Der Autor legt dar, dass es mit dem unternehmerischen Sorgfaltsmaßstab im Bereich der Verbandsverantwortlichkeit sowie mit der nichtfinanziellen Berichtspflicht im Bereich des Bilanzstrafrechts bereits Anwendungsfälle im geltenden Recht gibt, in denen Vorgaben zu CSR eine strafrechtliche Absicherung erfahren haben.
Diese könnten als Blaupause für die Ausarbeitung einer künftigen funktionalen Verbindung von CSR und Strafrecht dienen und dabei helfen, den Weg für eine rechtliche Rahmensetzung unternehmerischer Verantwortung infolge wirtschaftlicher Betätigung zu bereiten.
Den Abschluss des Bandes bildet das sechste Kapitel, in welchem Christoph Kathollnig die Bemühungen innerhalb der EU zur Errichtung einer nachhaltigen Finanzwirtschaft und ihre Auswirkungen auf die Rechtswissenschaft nachzeichnet. In dem bemerkenswerten Beitrag analysiert der Autor die zunehmende Verrechtlichung des Nachhaltigkeitsthemas, das lange als freiwilliges Engagement verstanden wurde, u.a. anhand der europäischen Offenlegungs[5]– und Taxonomieverordnung[6]. Dass sich diese Entwicklung zunehmender politischer Initiativen zur Steigerung nachhaltiger Wirtschaftsprojekte nicht auf die Bereiche des Europa- und Kapitalmarktrechts beschränkt, sondern auch strafrechtliche Konsequenzen zeitigen wird, belegt Kathollnig mit einer kurzen Studie zur möglichen Betrugsstrafbarkeit des sog. „Greenwashings“ von Finanzprodukten. Auch wenn hier noch viele Rechtsfragen offen sind, zeigt der Beitrag eindrucksvoll, vor welche Herausforderungen die (Straf-)Rechtswissenschaft durch die Regulierung des Nachhaltigkeitsaspektes noch gestellt werden wird.
Fazit: Für jeden, der einen umfassenden Einblick in die aktuelle Diskussion um die Entwicklung eines Wirtschaftsvölkerstrafrechts mit seinen rechtsdogmatischen und -theoretischen Herausforderungen erlangen möchte, stellt das hier besprochene Werk ein absolutes „Must-Read“ dar. Wem das nicht reicht, der darf freudig gespannt auf den zweiten Projektband sein, der weitere zentrale Fragestellungen zur unternehmensstrafrechtlichen Steuerung und Haftung transnational agierender Unternehmen in den Blick nehmen wird.
Die Verfasserin ist Akad. Rätin a.Z. am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie von Herrn Prof. Dr. Frank Saliger an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
[1] BGBl. 2021 I, S. 2959.
[2] Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, ABl. L 119 vom 4.5.2016.
[3] Verordnung (EU) 2022/1925 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2022 über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor und zur Änderung der Richtlinien (EU) 2019/1937 und (EU) 2020/1828 (Gesetz über digitale Märkte), ABl. L 265 vom 12.10.2022.
[4] BGBl. 2023 I, Nr. 140.
[5] Verordnung (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019 über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor, ABl. L 317 vom 9.12.2019.
[6] Verordnung (EU) 2019/2088 des Europäischen Parlaments und des Rates vom Juni 2020 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/2088, ABl. L 198/13 vom 22.6.2022.