Digitale Technologien verändern das Strafverfahren grundlegend: Künstliche Intelligenz (KI) im Ermittlungsverfahren, neue Formen digitaler Beweismittel und die Frage nach prozessualer Transparenz fordern traditionelle Strukturen heraus. Perspektiven von Wissenschaft und Praxis aufgreifend, widmete sich die Tagung mit dem Titel „Digitales im Strafprozess. Wissenschaft und Praxis im Dialog“, die vom 20. bis 21.2.2025 in München stattfand, der Justiz im digitalen Wandel – zwischen Effizienz, Kontrolle und rechtsstaatlicher Verantwortung.
Am 20. und 21.2.2025 fand in den Räumen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung die von Nina Schrott (Universität München) und Markus Abraham (Universität Hamburg) organisierte Tagung „Digitales im Strafprozess. Wissenschaft und Praxis im Dialog“ statt. In vier Panels wurde jeweils ein Oberthema in kurzen Vorträgen aus Wissenschaft und Praxis behandelt, an die sich gemeinsame Diskussionen anschlossen. Den Ausklang der Tagung markierte eine Abschlussdiskussion, in der die behandelten Themen noch einmal vernetzt aufgegriffen und insbesondere Chancen und Herausforderungen digitaler Elemente im Strafprozess herausgearbeitet wurden.
A. Einführung
Markus Abraham begrüßte das Auditorium auch im Namen von Mitorganisatorin Nina Schrott mit einem Aufriss der Tagungsziele und -intentionen. Er betonte, dass der Praxisbezug besonders ernst genommen werden sollte. Denn jeder Theorie gehe praktisches Wissen voraus. Gerade daher ziele die Tagung darauf, einen Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft zu befördern. Insbesondere beim Strafprozessrecht liege eine solche Verknüpfung von Theorie und Praxis nahe. Mit den digitalen Entwicklungen seien neue Herausforderungen auf das Gebiet des Strafprozessrechts zugekommen. Man sorge sich vor allem um die praktische Handhabung großer Datenmengen sowie die soziale Praxis der Zuschreibung vorwerfbaren Unrechts als unmenschlich/nicht-menschlich im Kontext der Einbindung von KI. Die aktuellen Herausforderungen sollten ebenso Gegenstand der Tagung sein wie die sich daraus ergebenden Chancen, so Abraham.
B. Panel I: Beweiswert des Digitalen: Die Fehleranfälligkeit und Manipulierbarkeit elektronischer Beweismittel
Thema des ersten Panels war der Beweiswert des Digitalen. Victoria Ibold (Universität Halle) moderierte das Panel und leitete die abschließende Diskussion.
I. Ausgedruckte WhatsApp-Chats und Deepfake-Ausreden – Einführung und Würdigung digitaler Beweismittel im Strafverfahren
Christian Rückert (Universität Bayreuth) beleuchtete in seinem Referat zentrale Herausforderungen des Umgangs mit digitalen Beweismitteln im Strafverfahren. Im Fokus standen vier Problemfelder: (1) das Übersetzungsproblem, (2) die Flüchtigkeit und Manipulierbarkeit digitaler Daten, (3) Fragen der Datenanalyse und Beweiswürdigung sowie (4) das sogenannte Black-Box-Problem. Digitale Daten liegen oft in nicht wahrnehmbarer Form vor, mit einer Übersetzung komme es zu einem Verlust des erstmaligen Beweismittels. Es stelle sich die Herausforderung, wie die Daten in die Hauptverhandlung einzuführen seien – etwa als Ausdrucke oder Videos von Chatverläufen. Während IT-Forensiker technisch zur Sicherung und Überprüfung solcher Daten fähig seien, bestünden insbesondere bei im Ausland erhobenen Daten – wie im Fall Encrochat –
erhebliche Zweifel an Qualität und Verlässlichkeit. Es gebe Technologien, die den Beweiswert sicherten und Manipulation technisch ausschlössen, sie müssten nur eingesetzt werden. Zudem erhalte die Verteidigung z.T. keinen ausreichenden Zugang zu den Daten, was die rechtsstaatliche Kontrolle erschwere. Datenanalysen – etwa zur Entanonymisierung von Kryptowährungstransaktionen – basierten häufig auf statistischen Methoden, lieferten aber keine absoluten Gewissheiten. Problematisch sei, dass die Auswertungsmethoden – häufig durch technische Dienstleister bereitgestellt – selten hinterfragt und teils durch Geschäftsgeheimnisse abgeschirmt würden. Auch der Einsatz von KI berge Risiken, etwa durch Fehleranfälligkeit oder Trainings-Bias. Das Black-Box-Problem betreffe die Nachvollziehbarkeit automatisierter Auswertungen. Der Vortrag betonte, dass die richterliche Beweiswürdigung auf einer objektiv tragfähigen Tatsachengrundlage gründen müsse. Ein bloßer Verweis auf die technische Funktionsweise genüge nicht; es bedürfe einer kritischen Auseinandersetzung mit dem konkreten Beweismittel und seiner Zuverlässigkeit. Bereits existierende Standards – etwa zur Authentizität, Wiederholbarkeit und Dokumentation in der IT-Forensik – sollten stärker vereinheitlicht und durch die Rechtsprechung, insbesondere den BGH, gefestigt werden. Ziel müsse eine nachvollziehbare, überprüfbare und rechtsstaatlich belastbare digitale Beweisführung sein.
II. Die richterliche Beweiswürdigung im Lichte manipulierbarer digitaler Beweismittel
Der folgende Vortrag wurde von Marie-Theres Hess (AG Würzburg/StMJ München) gehalten. Sie betonte, dass § 261 StPO keine starren Beweisregeln kenne, sondern eine rational nachvollziehbare, erschöpfende und eigenverantwortliche Sachverhaltsfeststellung verlange. Das Gericht müsse die Beweise sinnvoll verknüpfen und eine tragfähige Tatsachengrundlage schaffen – gestützt auf Intuition, Objektivität und Nachvollziehbarkeit. Digitale Beweismittel stellten in dieser Hinsicht neue Anforderungen: Daten seien zwar objektiv, doch leicht(er) manipulierbar und in großer Masse verfügbar. Ihre Sammlung und Verwertung erfolge stets subjektiv. Entscheidend seien daher ihre Authentizität, Integrität und Vollständigkeit. Am Beispiel von Deepfakes arbeitete die Referentin heraus, dass immer perfektere Fälschungen Zweifel an bislang als sicher geltenden Materialien wecken. KI könne Fälschungen erkennen, sei jedoch selbst eine Black Box – mit lediglich wahrscheinlichkeits-
theoretischen Ergebnissen. Für die richterliche Überzeugung bleibe der rationale Umgang mit Wahrscheinlichkeiten zentral. Erfahrungswissen, gesundes Urteil und die kritische Prüfung etwaiger Manipulationsinteressen seien unverzichtbar. IT-forensische Standards könnten helfen, böten bei neuen Phänomenen wie Deepfakes jedoch bislang keine verlässlichen Antworten. Das Gericht müsse daher auch bei technischen Gutachten deren Inhalt, Qualität und Aussagekraft kritisch würdigen – andernfalls drohe ein Automation Bias durch unreflektierte Technikgläubigkeit. Letztlich komme es stets auf die Gesamtwürdigung aller Beweise an. Zur Stärkung richterlicher Urteilskraft seien Fortbildungen und klare Leitlinien notwendig. Eine künftige KI-Verordnung könne ebenfalls einen Beitrag leisten. Herausforderungen bestünden auch bei der Abfassung von Urteilsgründen, die entweder überladen oder unvollständig ausfallen könnten, wenn technische Grundlagen vollumfassend oder aber nicht angemessen berücksichtigt würden.
III. Digital Evidence Preservation – Zum Beweiswert von elektronischen Siegeln und Signaturen
Dem Problem, dass der moderne Rechtsverkehr ein glaubwürdiges Beglaubigungssystem verlange, widmete sich im Anschluss Georgia Stefanopoulou (Universität Leipzig). Im Verlauf der Rechtsgeschichte habe sich die Unterschrift als Beglaubigungsinstrument gegenüber dem Siegel zunächst durchgesetzt – ein Monopol, das wiederum im digitalen Raum verloren gegangen sei. Die elektronische Signatur, insbesondere in qualifizierter Form nach EU-Verordnung, genieße dieselbe Rechtswirkung wie die handschriftliche Unterschrift. Rechtssoziologisch weise sie jedoch eine größere Nähe zum Siegel auf, da sie dem Text nachträglich Authentizität verleihe und die Unveränderbarkeit garantiere. Elektronische Siegel und Signaturen verfügten über differenzierte Sicherheitsniveaus. Die höchste Beweiskraft komme der qualifizierten Signatur zu, die gemäß der ZPO eine gesetzliche Vermutung der Echtheit begründe. Die Sicherung des Vertrauens sei auch im Bereich des Digitalen zentral – analog zur Bedeutung der historisch geübten Praxis der Siegelaufbewahrung. Heute würden entsprechende Daten in sicheren Datenbanken verwahrt. Durch Digitalisierung habe das Institut des Siegels neue Aktualität gewonnen, da das Vertrauen in das digitale geschriebene Wort schwinde. Die Entkopplung von Raum und Zeit, wie Luhmann sie beschreibe, erschwere die Quellenverifikation – Reputation verliere an
Bedeutung, digitale Inhalte seien manipulationsanfällig. Deepfakes stellten die Glaubwürdigkeit digitaler Beweise infrage, während der klassische Zeuge wieder an Bedeutung gewinne. Digitale Signaturen könnten dem entgegenwirken, würden aber bislang nicht ausreichend genutzt. Es gebe niedrigschwellige Tools wie den NetzBeweis, die einfache Signaturen und Zeitstempel zur Beweissicherung bieten. Auch einfache elektronische Signaturen dürften nicht pauschal abgelehnt werden, obwohl sie keine kryptografische Absicherung böten. Digitale Signaturen könnten die Identifikation erleichtern und Manipulationen nach Signatur absichern, schützten jedoch nicht gegen Veränderungen vor der Versiegelung. Entscheidend sei daher eine sorgfältige Balance: Die Signatur solle Vertrauen begründen, ohne unangemessene autoritative Wirkung zu erzeugen.
C. Panel II: Unfassbare (Daten-)Mengen: Braucht die Strafjustiz neue (digitale) Antworten auf das Phänomen der Digitalisierung – und wenn ja, welche könnten das sein?
Mit den umfassenden Datenmengen, die im digitalen Raum anfallen, setzte sich das zweite von Hannah Ofterdinger (Universität Hamburg) ausgestaltete Panel auseinander.
I. Zum Stand der Digitalisierung im Strafverfahren aus der Perspektive des BMJ
Oliver Sabel (Bundesministerium der Justiz) skizzierte die gesetzgeberische Perspektive auf die Digitalisierung. Das gescheiterte Dokumentations-Hauptverhandlungsgesetz sei aus Digitalisierungsgründen eine verpasste Chance gewesen – insbesondere die vorgesehene Echtzeit-Transkription hätte eine deutliche Modernisierung bedeutet. Beim elektronischen Rechtsverkehr stehe man zwar nicht schlecht da, doch litten Systeme wie das besondere elektronische Anwaltspostfach weiterhin unter hoher Formalisierung. Gerade für Bürger sei der Zugang erschwert, was der digitalen Transformation im Wege stehe. Die digitale Identität über das Mein-Justiz-Postfach sei kaum verbreitet, qualifizierte Signaturen fänden wenig Anwendung. Dennoch habe man Fortschritte erzielt, etwa beim digitalen Strafantrag und dem Wegfall des Unterschriftserfordernisses bei Protokollen. Plattformkommunikation und Projekte wie die Justiz- oder Beweismittel-Cloud seien perspektivisch bedeutend. Die
Einführung der elektronischen Akte jedoch verlaufe im Strafverfahren bislang schleppend. Ermittlungsakten könnten immer noch selten digital von der Polizei zur Staatsanwaltschaft übermittelt werden, da föderale IT-Strukturen nicht kompatibel seien. Das Ziel einer flächendeckenden Einführung bis 2026 bleibe bestehen, wenngleich erste Länder Zweifel an der Einhaltung geäußert hätten. Zur digitalen Beweisaufnahme führte der Referent aus, dass der Gesetzgeber hier zur Zurückhaltung tendiere. Der Modernisierungsgesetzentwurf sehe jedoch vor, das Selbstleseverfahren auf elektronische Dokumente zu erweitern und eine Verlesung auch vom Bildschirm zu ermöglichen. Schließlich ist die Videoverhandlung thematisiert worden: Diese habe sich im Zivilprozess bewährt, werde dort wohl zur Regelform. Im Strafprozess hingegen bleibe die körperliche Anwesenheit in der Hauptverhandlung weitgehend Voraussetzung. Videozuschaltungen seien dort bislang nur im Revisionsverfahren vorgesehen. Der Versuch, ein Recht auf Teleanwesenheit auch für Inhaftierte gesetzlich zu verankern, sei gescheitert – ein Mindestanspruch auf Zuschaltung bestehe jedoch immerhin. Insgesamt wolle das BMJ in den kommenden Jahren einen substanziellen Schritt bei der digitalen Transformation der Justiz unternehmen.
II. Das Nadelöhr der Datenselektion – KI und andere Herausforderungen für den fairen Strafprozess
In seinem Vortrag beleuchtete Mayeul Hiéramente (RA und FA Strafrecht Hamburg) zentrale Herausforderungen und Chancen digitaler Ermittlungsinstrumente im Strafprozess. KI könne hierbei unterstützend wirken – und werde schon eingesetzt bei polizeilichen Online-Wachen, durch die Anzeigen fokussierter erfasst würden, oder mittels Gesichtserkennung in Fahndungen. Doch bleibe das Risiko bestehen, dass die KI durch ihre Vorauswahl und Wertung die spätere richterliche Wahrnehmung beeinflusse. Ein zentrales Problem sei die Datenfilterung im Ermittlungsverfahren. Die Sichtung digitaler Inhalte erfolge häufig durch die Staatsanwaltschaft, ohne Beteiligung der Verteidigung. Gerade bei Daten Dritter sei dem Beschuldigten regelmäßig kein Akteneinsichtsrecht zuzugestehen, was erhebliche Fairnessbedenken aufwerfe. Der verbleibende Datenschatz sei nicht transparent; weder Auswahlkriterien noch entlastende Beweise ließen sich im Nachhinein zuverlässig rekonstruieren. Die Vision einer binären Selektion durch KI – also klare Relevanz/Nichtrelevanz-Zuweisung – sei ambivalent: Einerseits könne sie
Verfahren beschleunigen, Ressourcen schonen und Fehler menschlicher Sichtung vermeiden. Andererseits drohten mangels Nachvollziehbarkeit Beweisverluste und Verfahrensnachteile für die Verteidigung. Daraus ergäben sich drei Herausforderungen: konzeptionell (Klarheit über den KI-Einsatz), regulatorisch (Zugang zu Rohdaten) und organisatorisch (Dokumentation und Vergütung z.B. im RVG). Fairness für die Verteidigung setze voraus, dass Suchstrategien dokumentiert und nachvollziehbar gemacht würden – ohne unnötige Bürokratisierung und hohe Kosten für spezialisierte IT-Sachverständige.
III. Der Einsatz von KI im Kampf gegen Kinderpornographie
Den abschließenden Vortrag hielt Tamina Preuß (Universität Würzburg). Sie stellte den zunehmenden Einsatz von KI bei der Strafverfolgung von Kinderpornografie dar. Projekte wie Sweetie oder Chatbots zeigten, dass KI sowohl bei der Tätersuche als auch bei der Datenbewertung unterstütze. Angesichts massiv gestiegener Fallzahlen und Datenmengen erscheine der manuelle Zugriff kaum noch realistisch. KI könne nicht nur entlasten, sondern auch Beamte vor psychischer Belastung schützen. Organisationen wie das NCMEC (National Center for Missing & Exploited Children) nutzten KI-gestützte Systeme zur internationalen Koordination – täglich bei zehntausenden Meldungen. Im Fokus der Debatte stünden zudem sogenannte Keuschheitsproben, bei denen Täter vor Kontaktaufnahme eigenes Material liefern müssten. Ermittler dürften jedoch kein echtes Material verwenden, daher böten KI-generierte Aufnahmen eine rechtlich vertretbare Alternative. Zwar sei das „Training“ der KI keine strafbare Herstellung, der Begriff des „Einsatzes“ im Sinne des § 110d StPO sei aber bislang unklar. KI-Material könne den Markt zwar „bereichern“, gleichzeitig aber zu mehr Verurteilungen führen. Auch die Verwendung echter Darstellungen mit Einwilligung der Opfer sei diskutiert worden, aber ethisch problematisch, da retraumatisierend und kaum widerrufbar. Kriminalpolitisch sei umstritten, ob es für derartige Proben einer gesetzlichen Erlaubnis bedürfe. Insgesamt sei das Potenzial der Nutzung von KI groß, doch bedürften offene rechtliche und ethische Fragen der Klärung – insbesondere zur Zulässigkeit der Vorratsproduktion und zum Verhältnis von Verhältnismäßigkeit und technischer Machbarkeit.
D. Panel III: Bleibendes aus der Verhandlung: Die Bild- und Tonaufzeichnung der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (auch vor dem Hintergrund etwaiger Gefährdungslagen für die Beteiligten)
Felix Ruppert (Universität München) moderierte die dritte Sektion, die Aufzeichnungsfragen im Kontext der strafgerichtlichen Hauptverhandlung in den Mittelpunkt stellte.
I. Die Dokumentation der Hauptverhandlung – von den unbegründeten Ängsten der richterlichen Praxis
Christoph Knauer (RA/Universität München) betonte, dass Emotionen, insbesondere Ängste, das Strafrecht und dessen politische Gestaltung maßgeblich prägten. Oft handele es sich dabei nicht um die formulierte, sondern eine tiefer liegende Angst. Strafverteidiger müssten als gleichwertiger Teil neben Staatsanwaltschaft und Richterschaft wahrgenommen werden. Im Zentrum sah er den gescheiterten Entwurf zur audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung. Dieser sei politisch hoch umstritten gewesen und deswegen im Bundesrat gescheitert. Dabei habe es sich um ein Reformvorhaben mit großem Potenzial gehandelt: Die Expertengruppe des BMJ habe betont, dass Tonaufzeichnungen mit Transkription die Nachvollziehbarkeit der Verhandlung stärken und die Wahrheitsfindung fördern könnten. Das bisherige System – insbesondere § 273 StPO – stamme aus dem 19. Jahrhundert und erfasse über das Protokoll die Beweisaufnahme nicht objektiv oder vollständig. Es sei kaum begründbar, warum in erstinstanzlichen Verfahren keine systematische Dokumentation stattfinde. Fehlende Aufzeichnungen könnten Vertrauen in das Gericht beschädigen und Fehlurteile begünstigen. Eine vollständige Aufzeichnung – idealerweise per Video – könne hingegen Transparenz schaffen und zur Mäßigung der Verfahrensbeteiligten beitragen. Die Sorge vor Leaks sei zwar präsent, jedoch bestehe diese Gefahr auch im jetzigen System – eine Aufzeichnung böte im Fall fehlerhafter Berichterstattung sogar eine objektive Grundlage. Revisionsrechtlich könne ein Transkript die Überprüfbarkeit stärken, ohne das Rekonstruktionsverbot zu verletzen. Technisch sei eine Umsetzung bereits heute möglich, selbst Dialekte stellten kein Hindernis dar. Der Referent unterstrich zusammenfassend, dass es bei der Debatte weniger um Technik als um Deutungshoheit im Gerichtssaal gehe – ein transparenter,
dokumentierter Strafprozess stärke letztlich das Vertrauen in das Verfahren und erleichtere die Wahrheitsfindung.
II. Wahrheit und Justiz, Verfahrensinteressen und Persönlichkeitsrechte – Wer ist eigentlich das scheure Reh?
Im zweiten Vortrag analysierte Tobias Kulhanek (LG Nürnberg-Fürth/Universität Erlangen-Nürnberg) die Rolle der Wahrheit im Strafverfahren und hob hervor, dass sich die Justiz noch immer vor umfassender Transparenz scheue – aus Sorge um Kontrollverlust. Dabei seien sowohl die Verfahrensbeteiligten als auch das Verfahren selbst von unterschiedlichen Interessen geprägt, was etwa zu abweichenden Deutungen von Zeugenaussagen führe. Dies gefährde jedoch nicht die Objektivität des Gerichts, sondern relativiere lediglich das richterliche Selbstverständnis. Das Tatgericht komme weiterhin zu verbindlichen Entscheidungen, auch wenn ein verstärkter Zugriff des Revisionsgerichts durch Ton- oder Bildaufzeichnungen möglich werde. Seine Deutungshoheit bleibe bestehen. Der Rechtsstaat könne sich nicht ohne Effizienz und Fairness verwirklichen. Aufzeichnungen könnten insbesondere Erinnerungslücken kompensieren und die richterliche Wahrheitserwartung absichern – diese sei mit der Individualität des Richters verbunden. Dabei gehe es nicht um einen Konsens, sondern um die forensisch ermittelte Wahrheit. Gerade in der Tatsacheninstanz führe die Dokumentation zu höherer Konzentration auf das Beweisverfahren, geringeren Fehlerquellen und objektiveren Grundlagen – auch im Revisionsverfahren, was zu mehr Rechtsfrieden führen könne. Gleichwohl müssten aufgezeichnete Inhalte von allen Beteiligten geprüft werden, um selektive Mitschriften zu vermeiden. In der Revision könne dies dazu beitragen, unredliche Begründungen zu verhindern, eine abweichende Beweiswürdigung zu erkennen und die Inbegriffsrüge zu schärfen. Abschließend rief der Referent zu mehr Ehrlichkeit im Diskurs auf: Weder pauschale richterliche Ablehnung noch einseitige Verteidigerpositionen führten weiter. Wissenschaft und Praxis müssten offen über Interessen sprechen – nur so könne echte Reform gelingen.
E. Panel IV: Überdenken der Grundsätze: Strafprozessuale Prinzipien im digitalen Zeitalter
Abschließend thematisierte die vierte Sektion unter Leitung von Petra Wittig (RAin/Universität München) strafprozessuale Prinzipien in Zeiten digitalen Wandels.
I. Herausforderungen des Tatrichters im digitalen Zeitalter – Praxisbericht aus Sicht des Schwurgerichts
Alexandra Nicolai (LG Nürnberg-Fürth) skizzierte anhand eines Schwurgerichtsverfahrens die praktischen und rechtlichen Herausforderungen der digitalen Datenflut im Strafprozess. Bei Verfahren wie dem „Südstadt-Schützen“ entstünden durch den umfassenden Einsatz strafprozessualer Ermächtigungsgrundlagen – etwa Funkzellenabfragen, Quellen-TKÜ oder Verkehrsdaten – riesige Datenmengen. Mit Eingang der Anklage – über 100 Leitz-Ordner – hätten in Ermangelung einer Beweismittel-Cloud Übersetzungen durch vereidigte Dolmetscher und eigene Aktenpläne Abhilfe schaffen müssen. Besonders relevant sei die Auslegung des Aktenbegriffs: Während die Kammer eine polizeiliche Gesprächszusammenfassung nicht als Teil der Akten gewertet habe, habe der BGH klargestellt, dass auch solche polizeilichen Hilfsmittel der Verteidigung zugänglich sein müssten. Der Beschleunigungsgrundsatz sei angesichts komplexer Koordinierung, laufender Auswertungen und begrenzter Kapazitäten in der Praxis schwer umsetzbar – insbesondere in Haftsachen. Zugleich verlange der Unmittelbarkeitsgrundsatz, digitale Inhalte unter Berücksichtigung von Zeit, Kontext und Klang der Stimme in Beweismittel zu übersetzen – etwa im Kontext eines möglichen Rücktritts oder bezüglich der Arglosigkeit des Opfers. Die Aufklärungspflicht verschärfe dies weiter, da etwa bei der Prüfung niedriger Beweggründe eine Gesamtwürdigung erforderlich sei, die sich bei gewaltigen Datenmengen kaum lückenlos leisten lasse. Die freie Beweiswürdigung stoße ebenfalls an Grenzen, etwa wenn Hauptzeugen die Aussage verweigerten und nur Vorermittlungsergebnisse vorlägen. Für die Urteilsabfassung sei schließlich ein Balanceakt zu leisten: Weder dürfe sie ausufern noch Lücken aufweisen – im Wissen, dass das Rekonstruktionsverbot im Revisionsverfahren keine nachträgliche Korrektur ermögliche.
II. Ein neues Grundprinzip der Heimlichkeit – Anforderungen an eine StPO bei Abkehr vom Grundsatz des offenen Ermittelns
In Vertretung von Sabine Swoboda (Universität Bochum) stellte Philipp Kiuppis (Universität Bochum) ihre Überlegungen vor. Der Vortrag thematisierte die Stellung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren – sie werde zunehmend geschwächt. Der Schutz des Beschuldigten erfolge mittlerweile maßgeblich nur über die formalen Voraussetzungen für Ermittlungsmaßnahmen. Bei offenen Eingriffen genügten niedrige Verdachtsschwellen, oft reiche ein Anfangsverdacht. Selbst rechtswidrig erhobene Beweise führten selten zu einem Verwertungsverbot. Schutzmöglichkeiten bestünden meist nur nachträglich, ohne Vollzugshemmung – der Beschuldigte gestalte das Verfahren allenfalls mittelbar mit. Bei heimlichen Maßnahmen wie Online-Durchsuchungen oder Telekommunikationsüberwachung seien die Eingriffsvoraussetzungen zwar höher, echte Verteidigungsrechte aber kaum möglich. Drittbetroffenheit sei dabei eher Regel als Ausnahme. Zudem verschwimme zunehmend die Grenze: Scheinbar offene Maßnahmen – etwa Durchsuchungen bei Dritten – wirkten in der Praxis wie verdeckte Eingriffe. Es fehle ein echter Ausgleich. Nachträglicher Rechtsschutz reiche oft nicht aus, um den erforderlichen Verdachtsgrad zu überprüfen. Auch unions- und menschenrechtliche Schutzmechanismen – etwa Art. 8 EMRK oder die EU-Richtlinie zum Individualschutz – würden von der Rechtsprechung, wie etwa im Fall Encrochat, teils unterlaufen. § 261 StPO eigne sich nicht als Grundlage für internationale Datentransfers, werde aber dennoch herangezogen. Besonders kritisch ging der Referent auf die kommende E-Evidence-Verordnung ein, nach der Ermittler direkt auf Daten im EU-Ausland zugreifen dürften. Betroffene Unternehmen könnten sich dem nicht entziehen, Schutzrechte seien dem Sitzstaat überlassen. Beschuldigte drohten so weiter an den Rand gedrängt zu werden. Zudem ermögliche die Kombination aus niedriger Verdachtsschwelle, zurückhaltendem Beweisverwertungsverbot und der wachsenden Zahl digitaler Spuren ein „Fishing for Evidence“. Ermittlungen verlören dadurch an Kontur – mit spürbaren Folgen für die rechtsstaatliche und menschenrechtliche Balance.
F. Zusammenfassung der Tagung
Sowohl in den Diskussionen zu den einzelnen Panels wie auch in einer umfassenden Abschlussdiskussion wurde unter großer Beteiligung auf die jeweiligen Themen eingegangen. Der Grundsatz der Vereinigung von Wissenschaft und Praxis stand stets im Mittelpunkt und blieb bis zuletzt berücksichtigt. Gerade dadurch bot die Tagung Gelegenheit, gemeinsam über die eigene Sichtweise hinaus in den Austausch zu treten und neue Perspektiven aufzugreifen. Dieser Ansatz wurde vor Ort positiv bewertet wie auch als erforderlich angesehen, um die grenzüberschreitenden Herausforderungen zu bewältigen. Deutlich wurde: Der technologische Fortschritt eröffnet neue Möglichkeiten – verlangt aber zugleich nach einer klaren respektive adäquaten rechtlichen (strafprozessualen) Rahmung.
Die Autorin ist Studentin der Rechtswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und in der Kanzlei Peters, Schönberger & Partner tätig.
Da es sich bei diesem Beitrag um einen Tagungsbericht handelt, wurde von einem Peer-Review-Verfahren abgesehen.